Es war kein Start-Ziel-Sieg. Doch am Ende setzte sich alt Bundesrat und Bundespräsident Alain Berset deutlich durch gegen seine beiden Herausforderer. Entscheidend war zweierlei: Erstens wollten viele Europaratsabgeordneten keinen Eurokraten, was gegen den belgischen EU-Justizkommissar Didier Reynders sprach. Zweitens wollten sie jemanden mit langer Regierungs- und Führungserfahrung, was der Este Indrek Saar nicht bieten konnte.
Sein Wahlkampf führte den 52-jährigen Jung-Rentner Alain Berset in den vergangenen fünf Monaten in 25 der 36 Mitgliedländer des Europarates. Mit seiner engagierten Kampagne signalisierte er, dass er den Chefposten in Strassburg wirklich wollte. Bei den Anhörungen am Sitz des Europarates schnitt er gemäss Aussagen der Anwesenden sehr gut ab. Mindestens so gut wie der erfahrene mehrfache belgische Ex-Minister und EU-Kommissar Reynders und deutlich besser als der als politisches Leichtgewicht geltende estnische Ex-Kulturminister Indrek Saar.
Saar als gefährlicher Herausforderer
Dennoch entpuppte sich Saar schliesslich als der gefährlichere Herausforderer. Zum einen haben Berset und Saar, beides Sozialdemokraten, einander in der linken Fraktion Stimmen weggenommen. Zum andern erhielt Saar viele Sympathiestimmen aus Osteuropa, weil seine Heimat Estland als von Russland bedrohtes Land gilt. Die russische Bedrohung ist ein zentrales Thema im Europarat.
Allerdings dürfte die Tatsache, dass die estnische Regierungschefin Kaja Kallas EU-Aussenbeauftragte werden soll, Saar entscheidende Stimmen gekostet haben. Denn gleich zwei europäische Spitzenposten nach Estland zu vergeben, erschien manchen übertrieben.
Ukraine-Krieg ein zentrales Thema
Berset wiederum hat sich in der Ukraine-Frage inzwischen klar positioniert. Dies nachdem er da seinerzeit als Bundesrat noch ziemlich lavierte. Bereits bei seinem ersten Kurzauftritt vor den Medien unterstrich er jetzt, Russlands Krieg sei ein ganz zentrales Thema für den Europarat, vor allem die Unterstützung der ukrainischen Bevölkerung.
Für den Belgier Reynders sind die Nichtwahl und der grosse Rückstand im zweiten Wahlgang eine bittere Enttäuschung. Zumal er es nun auch beim zweiten Anlauf nicht schaffte, Generalsekretär des Europarats zu werden. Offenkundig steht der bald 66-Jährige vielen zu wenig für Aufbruch und Erneuerung. Und manche wünschen sich jemanden an der Spitze, der weniger mit der EU verbandelt ist. Die beiden grossen Europäischen Organisationen EU und Europarat arbeiten zwar in vielen Bereichen zusammen. Doch beim Europarat, dem älteren und mitgliedermässig grösseren, aber finanziell und machtmässig schwächeren, wird sehr auf Eigenständigkeit geachtet. Strassburg möchte nicht zur Filiale der Brüsseler Union werden.
Ein starker Mann ist gefragt
Bersets Wahl zeigt aber vor allem eines: Viele Abgeordnete wollen diesmal einen starken Mann an der Spitze. Als entscheidungsfähiger und entscheidungswilliger Kandidat hat sich der Freiburger präsentiert. Aufgrund seiner Biografie trauen ihm offenbar viele zu, dem Europarat zu mehr Sichtbarkeit und zu mehr Gewicht zu verhelfen. Das ist umso wichtiger, als gerade jetzt auch in Europa in immer mehr Ländern Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte unter Druck geraten. Und genau deren Hüter ist der Europarat. Hier ist seine zentrale Aufgabe. Und hier hat er mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR ein wichtiges und einflussreiches Organ.
Berset tritt also seine Aufgabe in einer spannenden, aber zugleich herausfordernden Zeit an. Er wird sich, wie seinerzeit in der Schweiz während der Corona-Pandemie, erneut beweisen müssen. Die Erwartungen sind hoch.