Der Immobiliengigant Evergrande in China wankt – und droht andere mitzureissen. Die meisten Beobachter gingen bislang davon aus, dass das Problem auf China beschränkt bleiben dürfte. Doch am Dienstag hat der Internationale Währungsfonds (IWF) davor gewarnt, dass Evergrande zum globalen Risiko werden könnte. China-Experte Horst Löchel sieht derzeit aber keine Gefahr für das weltweite Finanzsystem.
SRF News: Wird Evergrande zum Risiko für die globale Finanzstabilität?
Horst Löchel: Was sich im chinesischen Immobiliensektor abspielt, ist nicht mehr nur auf Evergrande beschränkt. Der Immobiliensektor in China hat eine imposante Grösse. Wenn hier ein Dominoeffekt eintritt, wird das chinesische Finanzsystem umso härter getroffen.
Jede Delle in China hat negative Auswirkungen auf die Weltwirtschaft.
Das Hauptrisiko für die Welt wäre, wenn durch diese Ereignisse das Wirtschaftswachstum in China zurückgehen würde. 30 Prozent des globalen Wirtschaftswachstums gehen auf China zurück. Jede Delle in China hat negative Auswirkungen auf die Weltwirtschaft.
Ab wann werden die innerchinesischen Probleme zu einer Gefahr für die internationalen Finanzmärkte und die Weltwirtschaft?
Es würde dann zum Problem, wenn ein grosser Teil der Schulden, die der chinesische Finanzsektor angehäuft hat, aus dem Ausland kämen. Das ist aber nicht der Fall. Weder bei Evergrande noch bei anderen Unternehmen, die jetzt in Schwierigkeiten sind. Die internationale Verschuldung dieser Unternehmen liegt nicht höher als zehn Prozent.
Zum Vergleich: Beim Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers 2008 lag deren internationale Verschuldung bei 60 Prozent. Schon das spricht dagegen, dass es zu einem Crash des internationalen Finanzmarktes kommt. Zudem war der Schuldenstand von Lehman Brothers doppelt so hoch wie derjenige von Evergrande. Dies kann sich natürlich ändern, wenn nun auch andere Immobilienkonzerne in China in Schwierigkeiten geraten. Es ist aber nach wie vor ein innerchinesisches Problem.
Wie gross ist der Einfluss der Immobilienbranche auf Chinas Wirtschaft?
30 Prozent des chinesischen Wachstums stammt aus dem Immobiliensektor. Die Regulierungsbehörde hat vor einem Jahr angefangen, die Möglichkeiten zur Verschuldung von Immobilienunternehmen einzuschränken. Sie haben erkannt, dass sich eine grosse Blase aufgebaut hat. Das hat zunächst Auswirkungen auf diese Unternehmen selbst – es wird nämlich weniger gebaut.
Einen Total-Zusammenbruch wird die politische Führung in Peking auf jeden Fall verhindern. Denn für sie ist nichts schlimmer als soziale Instabilität.
Vor allem aber wirkt es sich auf die chinesischen Konsumenten aus: Wohneigentum ist ihnen heilig – als Anlageobjekt oder weil man selbst darin wohnt. Wenn es hier Schwierigkeiten gibt, geht der Konsum generell zurück. Dies kann Chinas Wachstum nach unten ziehen, was sich wiederum negativ auf die Weltwirtschaft auswirkt.
Greift die politische Führung nun ein, um zu verhindern, dass Evergrande zusammenbricht?
Ja, sie wird eingreifen. Aber mein Gefühl sagt mir, dass die Regierung den handelnden Personen und Institutionen zeigen will, dass Marktwirtschaft nicht nur aus Chancen, sondern auch aus Risiken besteht: Banken und Anleihehalter an den Kapitalmärkten können nicht einfach jedem Geld geben, der ein Haus oder eine Wohnung bauen oder kaufen will. Peking wird ihnen wohl eine Lektion in Sachen Marktwirtschaft erteilen. Zum Beispiel könnten innerchinesische Anleihen von grossen Versicherern nicht zurückgezahlt werden. Einen Total-Zusammenbruch wird die politische Führung aber auf jeden Fall verhindern. Denn für sie ist nichts schlimmer als soziale Instabilität.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.