An den Checkpoints in Kabul herrscht ständige Alarmbereitschaft. In jedem Wagen könnte ein Selbstmordattentäter sitzen. Einer hat sich im April vor einer Polizeistation im Zentrum der Stadt in die Luft gesprengt. Ein Polizist zeigt auf einen Krater im Beton: «Hier sprengte sich der Taliban um halb fünf Uhr nachmittags in die Luft. Acht oder neun Autos wurden zerstört und zwei unserer Polizisten verletzt.»
Die Taliban sind die Feinde Afghanistans und wollen dessen Regierung zerstören. Doch sie gewinnen seit dem Abzug der Nato-Truppen Ende 2014 an Boden – trotz der 350'000 Mann starken afghanischen Sicherheitstruppe und obwohl die Nato immer noch 13'000 Mann zur Unterstützung der Truppen im Land stationiert hat.
Taliban greifen fernab ihrer Gebiete an
Vor einer Woche feierten die Taliban ihren letzten Erfolg: Sie überrannten das Distrikt-Hauptquartier von Musa Qala in Helmand im Süden Afghanistans. Das hatte Symbolwert. Um Musa Qala hatten vor Jahren die Briten hart gekämpft und dabei Dutzende von Soldaten verloren. Der Ort ist strategisch wichtig. Durch ihn verläuft die Opiumroute. Die Taliban nahmen Musa Qala ein, obwohl sie die Nato aus der Luft bombardierte und viele ihrer Kämpfer tötete.
Die Taliban-Kommandanten fühlen sich militärisch gestärkt und sind deshalb weniger bereit für Verhandlungen und Friedensgespräche.
Am Sonntag hat die afghanische Armee den Distrikt zurückerobert. Aber Musa Qala ist kein Einzelfall, sondern seine kurzzeitige Eroberung durch die Aufständischen gehört zum landesweiten Trend. Die Taliban griffen in den letzten Wochen hundertfach an – und zwar nicht wie bislang nur in ihren Hochburgen im Süden und Osten des Landes, sondern auch im Norden und im Landesinnern.
Aussicht auf jahrelangen Krieg zermürbt
Graeme Smith von der International Crisis Group in Kabul spricht von bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Afghanistan: «Der Krieg eskaliert. Das haben wir vorausgesagt. Die Taliban erobern zwar nur kleine Gebiete, aber die politische Wirkung ist riesig. Denn die Taliban-Kommandanten fühlen sich militärisch gestärkt und sind deshalb weniger bereit für Verhandlungen und Friedensgespräche.»
Der Krieg könne sich so noch jahrelang dahinziehen, sagt Smith. Und das zermürbt die Bevölkerung, aber auch die afghanischen Sicherheitsdienste. Mehr als 5000 Soldaten und Polizisten wurden seit Jahresbeginn in Afghanistan getötet – um die Hälfte mehr als im Vorjahr. Die Soldaten und Polizisten liefen reihenweise davon, klagte General John Campbell in einer Talk Show in der Brookings Institution in Washington Anfang August. Campbell leitet die Nato-Truppen in Afghanistan.
«Die afghanischen Sicherheitstruppen verlieren etwa 4000 Mann pro Monat. Die meisten nicht im Kampf, sondern weil sie desertieren. Einige haben zwei, drei Jahre lang ohne Pause in Helmand gekämpft. Dann gehen sie nach Hause und kehren nie mehr zurück. Es mangelt an Führung. Das ist das Hauptproblem», sagte Campbell.
Verpflegung und Unterkunft oft schlecht
Afghanische Soldaten berichten davon, wie ihnen mitten im Kampf das Benzin ausgeht. Wie sie von Taliban umzingelt werden und niemand kommt zu Hilfe. Viele müssen monate- oder jahrelang auf ihrem Posten bleiben. Doch Zugang zu ihrem Sold haben sie nicht, weil es im Kampfgebiet keine Banken gibt.
Die afghanischen Sicherheitstruppen verlieren etwa 4000 Mann pro Monat. Die meisten nicht im Kampf, sondern weil sie desertieren.
Das Essen ist schlecht, die Unterkünfte oft auch. Kein Wunder kehren Tausende aus dem Urlaub nicht zurück. Obwohl die internationale Gemeinschaft Milliarden von Dollar in den Aufbau der afghanischen Sicherheitstruppen investiert hat, gebe es Lücken im Geheimdienst und der Logistik. Die Luftwaffe sei kaum existent, ein stabiles, mittleres Kader fehle, so Campbell.
Ohne Geld aus den USA auch keine Truppen
Die afghanischen Sicherheitstruppen existierten nur noch aus einen Grund, ergänzt Smith von der International Crisis Group: «Es wird viel Geld in die Rekrutierung von neuen Soldaten investiert. Auch ihr Lohn ist relativ hoch. Die afghanischen Sicherheitskräfte verschlingen extrem viel Geld.»
Mehr als fünf Milliarden Dollar pro Jahr. Der Löwenanteil kommt aus den USA. Bis 2017 ist die ausländische Finanzierung der afghanischen Sicherheitstruppen gesichert. Was danach kommt soll beim Nato-Gipfel im kommenden Sommer entschieden werden. Doch ohne ausländische Gelder – keine afghanischen Truppen. Darin sind sich Smith und Campbell einig.