SRF News: Mauern, Zäune, Grenzpolizisten: Herr Kroll, steht das grenzenlose Europa kurz vor dem Scheitern?
Frank-Lothar Kroll: Jahrzehntelang hat Europa kaum etwas gekostet. Es gab zwar ein Gefälle, dieses wurde aber finanziell ausgeglichen. Jetzt aber ist die erste fundamentale Krise Europas sichtbar – und die EU ist der Krise nicht gewachsen. Sie wälzt die Probleme auf die Nationalstaaten ab und die fühlen sich alleingelassen.
Vor 30 Jahren wurde das Schengen-Prinzip beschlossen, wonach ein Flüchtling nur im Einreiseland einen Asylantrag stellen darf. War das aus heutiger Sicht ein Denkfehler?
Aus heutiger Sicht, Ja. Hinterher ist man immer klüger. 1985 war die Welt im westlichen Europa in voller Ordnung. Das grenzenlose Europa war die Einlösung eines uralten Wunschtraumes der europäischen Menschheit. Niemand hat damit gerechnet, dass der Osten fünf Jahre später zusammenbricht, und neue Staaten zu Europa dazukommen, über deren Qualität man sich keine Gedanken gemacht hatte. Ebenso konnte 1985 niemand voraussehen, was heute der Fall ist: Dass jährlich Millionen von Menschen nach Europa strömen, die versorgt werden müssen. Das kann man den Schengen-Leuten nicht vorwerfen. Trotzdem: Aus heutiger Sicht war es ein Fehler, und Fehler muss man so schnell wie möglich beheben.
Die EU ist keine Hilfe; sie versagt.
Doch dafür fehlt die Kraft...
Dafür fehlt die Kraft und auch die Instrumente. So gibt es keine europäische Migrationspolitik, ja es gibt noch nicht einmal eine Migrationspolitik in den einzelnen Ländern, wie es sie etwa seit Jahrzehnten in Kanada gibt. Dort hat man 1967 ein Gesetz erlassen, das regelt, welche Punkte erfüllt werden müssen, damit man einwandern darf und wer kanadischer Bürger wird. Denn Asyl ist das eine, die Staatsbürgerschaft das andere. Darauf ist Europa nicht vorbereitet.
Die osteuropäischen Länder beharren auf ihrer Eigenständigkeit und möchten keine Flüchtlinge aufnehmen. Erleben wir gerade die Renaissance der Nationalstaaten?
Der Osten hat 40 Jahre lang unter einer bolschewistischen Käseglocke gelebt. Diese hat unter dem Überbegriff der Völkerfreundschaft der sozialistischen Nationen alle Nationalisten weggedrückt. Doch nachdem diese Käseglocke weg ist, tauchen die Nationalisten nun auf. Ungarn und Polen sind hier die Vorreiter – sie waren schon immer stolze Nationen. Wenn sie nun angesichts des Versagens der EU versuchen, die Dinge selber in die Hand zu nehmen, kann man es ihnen nicht verdenken. Im Westen sah es anders aus: Seit 1945 war man sich hier gewohnt, dass sich die Nationalstaaten zusammenraufen. Man denke an das deutsch-französische Abkommen von 1963, als sich die beiden Urfeinde versöhnten. So hat sich ein «gelebter Europäismus» eingebürgert und eingeübt. Die Staaten im Osten haben also eine Art Nachholbedarf. Doch dieser wird länger dauern, als die 40 Jahre im Westen, weil die EU nun die erwähnten Probleme hat, die früher nicht da waren. Die EU ist keine Hilfe; sie versagt und ist eher ein Hemmschuh.
Als Historiker kann ich sagen: Aus solchen Problemen werden noch viel grössere Probleme.
Abschottung, Öffnung, dann wieder Rückbesinnung auf die eigene Mentalität: Gibt es da Parallelen in der europäischen Geschichte?
Vor dem Ersten Weltkrieg war Europa ein Land ohne Grenzen. Es gab keinen Reisepass. Man konnte ohne Kontrolle von Lissabon nach St. Petersburg fahren. Das hat der Erste Weltkrieg zerstört. Die Nachkriegszeit hat eine extreme Renaissance der Nationalstaatlichkeit gebracht, gerade in Südosteuropa wurden viele neue Nationalstaaten gegründet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wiederum war man etwas besseren belehrt worden. Die Bemühungen der europäischen Gründerväter, den Kontinent zusammenzuschliessen, hatten Oberwasser. Und heute stehen wir an einem Scheideweg.
«Wir schaffen das», sagte Bundeskanzlerin Merkel zur Flüchtlingskrise. Sind Sie als Historiker auch so optimistisch?
Man muss es schon irgendwie schaffen. Aber das war – mit Verlaub – letztlich doch ein dummer Spruch. Ich bin nicht sicher, ob Frau Merkel ihn heute nochmals wiederholen würde. Es steht zur Bewältigung der Krise kein Instrumentarium zur Verfügung, jetzt wird erst daran gearbeitet, eines zu schaffen. Ausserdem haben wir zu wenig Polizisten und einsatzbereite Helfer, die diesen Flüchtlingsstrom in guter Weise kanalisieren können.
Heisst das, dass Sie aus historischer Sicht für eine Abschottung, für eine Sicherung der Festung Europas plädieren?
Da ich kein Politiker bin, habe auch ich kein Patentrezept. Ich kann nur sehen, was passiert und historische Parallelen ziehen. Was der Historiker sagen kann ist, dass aus solchen Problemen noch viel grössere Probleme entstehen werden. Es wird zu einer Polarisierung und Radikalisierung der Gesellschaft kommen. Und das kann niemand wollen.
Das Gespräch führte Ursula Hürzeler.