Nach UNO-Angaben haben sich seit Jahresbeginn 600'000 Migranten auf den Weg nach Europa gemacht, die meisten von ihnen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak.
Für heute Sonntag ist nun der EU-Balkan-Gipfel in Brüssel angesetzt, der die konkreten Folgen des Zustroms von Flüchtlingen in den Blick nimmt. Zu dem Sondertreffen sind ausser der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel auch die «Chefs» der EU-Länder Österreich, Bulgarien, Kroatien, Griechenland, Ungarn, Rumänien und Slowenien eingeladen. Es geht speziell um die Westbalkanroute.
Umsteuern notwendig
Nicht zuletzt mit Blick auf die bevorstehenden Beratungen forderte EU-Ratspräsident Donald Tusk beim Kongress der Europäischen Volkspartei (EVP) in Madrid ein Umsteuern in der europäischen Flüchtlingspolitik. «Wir können nicht länger den Eindruck erwecken, dass die grosse Welle an Migranten etwas ist, was wir wollen und dass wir eine durchdachte Politik der offenen Grenzen verfolgen», fügte er hinzu. Man könne auch «nicht länger erlauben, dass Solidarität mit Naivität gleichgesetzt wird, Offenheit mit Hilflosigkeit, Freiheit mit Chaos», monierte er.
Die Wahrheit ist: Wir haben die Fähigkeit verloren, unsere Grenzen zu schützen
Und Tusk redete Klartext: «Die Wahrheit ist: Wir haben unsere Fähigkeit verloren, unser Grenzen zu schützen. Und deshalb ist unsere Offenheit keine bewusste Wahl, sondern eine Schwäche.» Dies wurde in Madrid als Kritik an Bundeskanzlerin Merkel gewertet.
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«Schändliche Argumente»
Zugleich kritisierte der aus Polen stammende Tusk in der Flüchtlingsdebatte scharf einige osteuropäische EU-Regierungen – ohne sie zu nennen: Man dürfe Populismus und Fremdenhass nicht nachgeben, «denn unser politisches Ziel sollte es sein, Europa gegen Rechtsextreme zu stärken – und nicht wie sie zu werden». In der Debatte um eine solidarische Lastenverteilung würden teils «schändliche Argumente» vorgebracht.
Bundeskanzlerin Merkel ihrerseits sprach sich für eine gerechte Lastenverteilung unter den EU-Partnern aus, um das Flüchtlingsdrama zu bewältigen. Die EU dürfe aber auch Länder in ihrer Nachbarschaft wie Jordanien, den Libanon oder die Türkei bei der Aufnahme von Schutzsuchenden nicht alleinlassen, betonte sie in Madrid.
Jeder, der Europa betritt, hat das Recht, wie ein Mensch behandelt zu werden
«Wir werden das hinkriegen», sagte Merkel. «Die Herausforderung werden wir solidarisch meistern.» Es müsse der Grundsatz gelten: «Jeder, der Europa betritt, hat das Recht, wie ein Mensch behandelt zu werden.» Nach Europa kommende Menschen, für die die Genfer Flüchtlingskonvention gelte, dürften bleiben. Dagegen müssten viele Migranten, die aus wirtschaftlichen Gründen in die EU gelangten, Europa wieder verlassen.
«Europäischer Grenzschutz»
Nach ihren Worten muss die EU ihre Aussengrenzen besser schützen. «Ich kann mir vorstellen, dass wir einen europäischen Grenzschutz aufbauen», sagte die Kanzlerin. Es könne nicht hingenommen werden, dass das Grenzgebiet zwischen den Nato-Partnern Griechenland und der Türkei von Schlepperbanden kontrolliert werde. Dazu müssten Gespräche mit Ankara geführt werden.
Während Merkel die Notwendigkeit betonte, die Flüchtlinge menschlich zu behandeln, rief Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban dazu auf, das «Erbe» Europas gegenüber einer vorwiegend männlichen Migrationsbewegung zu verteidigen, «die den Anschein einer Armee hat».
Dies ist eine Migrationsbewegung, der wirtschaftliche Migranten, Flüchtlinge und ausländische Kämpfer angehören
EU-Ratspräsident Tusk versuchte zu vermitteln: «Wir müssen die unsinnige Diskussion zwischen jenen beenden, die die Grenzen verteidigen wollen, und den Anhängern von Solidarität und Öffnung», sagte er. «Wir wollen den Migranten helfen, aber die EU-Bürger wollen sich auch sicher fühlen.»
Orban blieb dabei: der Zustrom von Migranten bedeute eine Gefahr für Europa. «Wir haben es nicht allein mit einer Flüchtlingskrise zu tun», beharrte er. «Dies ist eine Migrationsbewegung, der wirtschaftliche Migranten, Flüchtlinge und ausländische Kämpfer angehören.» Das Ausmass der Gefahr sei grösser, als man bisher angenommen habe.
«Flüchtlingskrise wird Weihnachten nicht enden»
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sprach sich derweil für langfristige Hilfe aus. «Die Flüchtlingskrise wird Weihnachten nicht enden», mahnte er.
Es lägen von EU-Ländern Zusagen für Hilfszahlungen über 2,3 Milliarden Euro vor. Doch seien davon erst 275 Millionen eingegangen. «Wir brauchen in Europa die Werte des Herzens, die wir allzu oft vergessen», mahnte der Kommissionspräsident.
EU-Staaten ausgegrenzt
Derweil hat die EU-Aussenbeauftragte Federica Mogherini das am Sonntag in Brüssel geplante Sondertreffen zur Flüchtlingskrise auf dem Balkan verteidigt. In Anspielung auf Kritik von nicht eingeladenen EU-Staaten sagte Mogherini in Berlin, es gehe bei dem Treffen um eine sehr präzise Aufgabe, nämlich eine bessere Abstimmung der Grenzkontrollen auf der sogenannten Balkan-Route. Entsprechend habe die EU-Kommission alle Länder eingeladen, die davon betroffen seien.
Die EU-Kommission sehe wegen der Beitrittsverhandlungen mit den Ländern des Westbalkans eine besondere Verantwortung für die Region. «Es ist eine sehr schnell entflammbare Region», sagte Mogherini unter Hinweis auf den früheren Bürgerkrieg beim Zerfall Jugoslawiens.