SRF: Geht es den Palästinensern mit dem Beitritt zum ICC um die strafrechtliche Aufarbeitung des jüngsten Gazakriegs oder die illegalen Siedlungen Israels?
Christian Wenaweser: Das muss man die Palästinenser selbst fragen. Ich glaube die Siedlungspolitik ist ihnen wichtiger. Dies weil der fortgesetzte Siedlungsbau dazu führt, dass die sogenannte Zweistaatenlösung in der Praxis immer unrealistischer wird. Die Aufarbeitung des Gazakriegs hingegen ist auch für viele Palästinenser nicht eine so einfache Sache. Weil da auch Hamas-Anhänger vor Gericht gezogen werden könnten.
Wenn es den Palästinensern um den Siedlungsbau geht, ist des dann nicht ein Problem, dass sie in Den Haag nur Einzelpersonen anklagen können? Zur Anklage Israels bräuchten sie die Unterstützung des UNO-Sicherheitsrats.
Das stimmt. Vor dem ICC kann man immer nur Personen anklagen. Aber Sie können sich vorstellen: Wenn das Personen sind, die in Entscheidungspositionen sind in Israel, würde das natürlich grosses Aufsehen erregen.
Lässt sich abschätzen, wie der ICC in so einem Fall entscheiden würde?
Nein, darüber will ich wirklich nicht spekulieren. Doch wenn man das Römer Statut und das Kapitel acht, das sich mit Kriegsverbrechen befasst, sorgfältig durchliest, dann ist es klar, dass es eine Rechtsgrundlage gibt – beziehungsweise dass der Transfer einer zivilen Bevölkerung in ein besetztes Gebiet grundsätzlich ein Kriegsverbrechen ist. Das kann man mit Sicherheit sagen. Das steht im Vertrag. Aber wie und wann der ICC reagieren würde, darüber will ich nicht spekulieren.
Das ganze bildet ja auch ein gewisses Risiko für die Palästinenser. Bereits hat eine israelische Organisation angekündigt, sie wolle gegen drei hohe Mitglieder der Autonomiebehörde vorgehen. Was droht da den Palästinensern?
Diesen speziellen Fall habe ich bislang nicht gesehen. Ich habe mich in meinen Kommentaren auf den letzten Gazakrieg bezogen. Dort ist es meines Erachtens sehr deutlich, dass die Hamas Kriegsverbrechen im Sinne des Römer Statuts begangen hat. Ich kann im Moment allerdings nicht beurteilen, was man der palästinensischen Autonomiebehörde selber vorwerfen kann.
Das Vorgehen ist ja auch politisch riskant: Israel hat bereits Gelder eingefroren, welche die Palästinenser zugute haben. Die USA wiederum drohen, dies könne Auswirkungen auf ihre Hilfsgelder haben. Ist der ICC-Beitritt wirklich ein kluger Schritt der Palästinenser?
Mich haben die Art und Weise sowie der Zeitpunkt des ICC-Beitritts überrascht. Dass die Palästinenser den Beitritt anstreben, wusste man seit Jahren. Auch die Palästinenser wissen, dass dies politische Konsequenzen hat und auch für die anderen Staaten eine schwierige Entscheidung ist.
Längerfristig könnte der ICC in die Situation kommen, dass er über seine Zuständigkeit und die heftig umstrittenen Grenzen der Palästinensergebiete entscheiden müsste. Da kann sich der ICC ja fast nur in die Nesseln setzen.
Der ICC hat nur die Kompetenz für die Verbrechen, die Sie geschildert haben. Dazu gehört ja nicht, die Grenzen eines möglichen palästinensischen Staates festzulegen.
Wenn nun aber der ICC beispielsweise einen israelischen General für einen Angriff verurteilen würde: Müsste er nicht damit rechnen, dass Israel und die USA in dem Fall ihre Unterstützung für den ICC zurückziehen würden?
Beide erwähnten Staaten sind ja nicht im ICC drin, sie sind gegenwärtig keine Vertragsparteien. Das würde also gar nichts ändern. Aber es könnten natürlich auch Staaten, welche beim ICC mitmachen, Mühe haben mit einem solchen Schritt. Dann käme natürlich auch der ICC unter Druck.
Fürchten Sie nicht, dass der ICC an dieser doch sehr grossen Aufgabe zerbrechen könnte?
Es liegt nun auch an uns Vertragsstaaten des ICC, ihn zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass er seine Aufgaben meistern kann.
Das Gespräch führte Roman Fillinger.