Erst seit 120 Tagen ist Tom Fletcher der oberste Nothilfechef der UNO. Sie kommen ihm vor wie 120 Wochen. Fletcher war schon in Darfur, in Damaskus, in Gaza, an der russisch-ukrainischen Front.
Überall Krisen. Überall Krisenmanagement. «Noch ist die UNO-Nothilfeorganisation Ocha handlungsfähig. Jedoch immer öfter überfordert», räumt er ein.
Wir können nicht allen helfen, die Hilfe bräuchten. Harte, brutal harte Entscheidungen sind unvermeidlich.
307 Millionen Menschen sind gemäss UNO weltweit auf humanitäre Nothilfe angewiesen. So viele, wie noch nie zuvor. Bloss: «Allen, die Hilfe bräuchten, können wir nicht helfen. Harte, brutal harte Entscheidungen sind unvermeidlich.»
Man stelle neuerdings Kalkulationen an, so Fletcher: «Wo rettet eine Million Dollar am meisten Leben – und wo weniger? Und dann setzen wir die Mittel entsprechend ein. Oder eben nicht.» Im steten Bewusstsein: Wo die UNO nicht hilft, sterben Menschen.
Ausfall der USA wiegt sehr schwer
Weil es immer mehr gewalttätige Konflikte gibt und Naturkatastrophen, oft durch den Klimawandel ausgelöst, nimmt die Not zu, jedoch die Nothilfe ab. Das liegt nicht nur, aber sehr stark an der US-Regierung von Donald Trump, die über Nacht die Zahlungen einstellte.
Wir waren viel zu abhängig von den USA.
«47 Prozent der Hilfszahlungen stammten bisher von den USA. Wir waren viel zu abhängig von einem einzigen Land», sagt Fletcher. Auch dieses Problem muss Tom Fletcher lösen. Möglichst sofort.
Er besucht deshalb nicht nur Notstandsgebiete, sondern reist um die Welt, versucht Regierungen, Unternehmen und reiche Private zu überzeugen, die weggefallenen US-Gelder zu kompensieren. Mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg.
Eben war er in den reichen Golfstaaten, im April besucht er China. Jetzt war er in Bern. Fletcher ist froh, dass die finanzielle Unterstützung der Schweiz für seine UNO-Organisation gesichert ist. Er sei auch dankbar, dass die Schweiz felsenfest hinter der humanitären Hilfe stehe. Und sich auch diplomatisch für den Schutz humanitärer Helfer einsetze.
Lange Liste von Krisenherden
Gaza oder die Ukraine sind nur zwei aktuelle Konflikte, allerdings die in der Weltaufmerksamkeit wohl am präsentesten. Dutzende andere finden im Schatten der Schlagzeilen statt. Im Sudan, in Kongo Kinshasa, im Jemen, in Afghanistan. Die Liste ist lang.
Wir sind bloss die Ambulanz – wenn wir wieder weg sind, braucht es fast immer langfristige Hilfe. Die fehlt aber nun immer häufiger.
Dazu kommt: Selbst Staaten, die ihre humanitäre Hilfe aufrechterhalten, kürzen die Entwicklungshilfe. «Doch beides ist», so Fletcher, «miteinander verzahnt. Meine Organisation ist lediglich die Ambulanz, die kurzfristig hilft. Sind wir wieder weg, braucht es fast immer langfristige Hilfe. Die fehlt aber nun immer häufiger.»
Gewiss, es brauche auch im humanitären Bereich mehr Effizienz, mehr Koordination, mehr Delegation von Verantwortung aus Genf oder New York ins Terrain. Daran arbeite man längst, so Fletcher: «Und zwar schon bevor Elon Musk und Donald Trump begannen, in US-Behörden die Abrissbirne zu schwingen.»
Doch auch mit mehr Effizienz lasse sich der Wegfall von hunderten von Millionen an Hilfsgeldern nicht auffangen.