Die Sanktionen sollten der russischen Aviatik die Luft abschnüren. Insbesondere wegen des Verbots, wichtige Ersatzteile für Flugzeuge nach Russland zu liefern, würden die allermeisten Passagierflieger in Russland bald am Boden bleiben müssen, hiess es. Denn die Flotten der grössten russischen Airlines bestehen hauptsächlich aus Flugzeugen, die im Westen hergestellt wurden.
Doch genau das sei auch ein Problem, sagt die Publizistin und Expertin für die russische Luftfahrt, Anastasia Dagajewa. Sie stammt aus Russland, lebt aber heute in den USA. Die Maschinen von Boeing und Airbus, die in Russland fliegen, gehörten zu den am weitesten verbreiteten Flugzeugen der Welt, sagt Dagajewa. Daher sei es nicht allzu schwer, über alternative Wege an Ersatzteile zu gelangen.
In der Tat haben Recherchen amerikanischer und unabhängiger russischer Medien gezeigt, dass Firmen in den Vereinigten Arabischen Emiraten oder in Tadschikistan die russischen Airlines nun in grossem Stil mit westlicher Technik beliefern. Zudem hat Russland offenbar begonnen, einzelne Flugzeuge auszuschlachten, um andere mit Ersatzteilen zu versorgen.
Abstriche bei der Flugsicherheit?
Trotzdem ist in verschiedenen Berichten von gesunkenen Sicherheitsstandards in der russischen Luftfahrt zu lesen. Laut einer geleakten Audioaufnahme starteten im letzten Jahr 2000 Flüge mit Teilen, die eigentlich abgelaufen waren. Eine Maschine von Aeroflot hob ohne ausreichend Sauerstoffmasken für die Passagiere ab.
Flugbegleiter geben an, sie müssten technische Probleme nicht mehr lückenlos im Bordbuch festhalten. Nehmen die russischen Airlines also mutwillig Flugunglücke in Kauf? Für Aviatik-Expertin Dagajewa – selbst ausgebildete Pilotin – lässt sich das nicht einfach so sagen. «Die Frage nach der Sicherheit ist sehr vielschichtig», sagt sie, der Umgang mit Ersatzteilen sei nur einer von vielen komplexen Faktoren.
Vor zehn Jahren hatte Russland noch viel grössere Probleme mit der Flugsicherheit.
Berücksichtigen müsse man etwa auch den Faktor Mensch. Weiterbildungen und Trainings für Pilotinnen und Piloten würden zwar auch von den Sanktionen tangiert. Aber auch bei diesen könne Russland auf die Türkei oder auf Dubai ausweichen. Vor allem sei aber wichtig, dass sich die russische Luftfahrt in den letzten Jahren umfassend modernisiert und ein hohes Niveau an Technik und Know-how erreicht habe.
«Vor zehn Jahren hatte Russland noch viel grössere Probleme mit der Flugsicherheit», erklärt Dagajewa. «Aber bis vor dem Krieg hatten sie sich sehr stark in die internationale Luftfahrtbranche integriert, das verschaffte ihnen das beste Fachwissen und die besten Verfahrensweisen. Davon zehren sie jetzt.»
Langfristig werde die russische Passagierluftfahrt nicht kollabieren, sondern stagnieren, prognostiziert Dagajewa. «Wenn du isoliert bist, hast du keinen Zugang zur neuesten Technologie, du bleibst an Ort und Stelle.» Die einheimische Aviatikindustrie werde von alleine kaum aufholen können, zumal die Militärluftfahrt mit dem Krieg gegen die Ukraine umso mehr priorisiert würde.
Letztlich reflektiert der Zustand der russischen Luftfahrt die allgemeine Wirkung der westlichen Sanktionen: Noch schlägt sich Russland durch, weil es improvisieren kann, weil es Hilfe aus anderen Ländern kriegt und weil die Sanktionen nicht konsequent umgesetzt werden. Die Frage bleibt, wie lange das noch gut gehen kann.