Israel plant anscheinend, den Krieg gegen die Hamas auf den Süden des Gaza-Streifens auszuweiten – mit einem Grossangriff auf die Stadt Rafah. Rafah sei die letzte Bastion der Hamas, heisst es in Israel. Das würde den Druck auf Ägypten verstärken, die Grenzen zu öffnen. Warum Ägypten dies nicht tun will, erklärt Stephan Roll.
SRF News: Wie sieht man diese Entwicklung in Ägypten?
Zurzeit halten sich in dem Gebiet um Rafah weit über 1 Million Menschen auf. Davon sind Hunderttausende Binnenflüchtlinge. Da ist die Sorge gross, dass es bei einer direkten militärischen Intervention Israels in Rafah dazu kommt, dass die Menschen die Grenze stürmen.
Weshalb will Ägypten keine Flüchtlinge aus Gaza aufnehmen?
Es wäre ein Albtraumszenario. Im nördliche Sinai hat sich der ägyptische Staat mit militant-islamistischen Gruppen schwere Kämpfe geliefert. Stranden dort viele Flüchtlinge, könnte es zur Infiltrierung von Kämpfern kommen. Dazu könnte Ägypten in einen direkten Konflikt mit Israel hineingezogen werden, wenn nämlich palästinensische Kämpfer von ägyptischem Boden aus Israel angreifen würden.
Für Ägypten würde eine Übernahme des Philadelphi-Korridors durch israelisches Militär bedeuten, dass bestehende Friedensabkommen durch Israel gebrochen würden.
Der sogenannte Philadelphi-Korridor ist ein Landstück entlang der Grenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifen. Es wird von Ägypten kontrolliert. Nun könnte Israel Anspruch darauf erheben. Was hiesse das für Ägypten?
Das ist in Ägypten ein hochemotionales Thema. Seit 2005 war dieser Streifen unter israelischer Kontrolle. Dann gab es ein Abkommen, das vorsah, dass die ägyptische Grenzpolizei dort die Absicherung macht. Für Ägypten würde eine Übernahme des Korridors durch israelisches Militär bedeuten, dass bestehende Friedensabkommen durch Israel gebrochen würden. Das sieht man als massiven Affront.
Israel sagt, nur mit der Kontrolle des Philadelphi-Korridors liesse sich der Schmuggel in den Gazastreifen unterbinden. Wie sehen Sie das?
Diesbezüglich stehen zwei Vorwürfe im Raum. Auf der einen Seite werfen ägyptische Politiker Israel vor, dass Israel an der Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen auf den Sinai hinarbeitet. Dafür gibt es durchaus Anzeichen: Einerseits äusserten sich israelischer Politiker dahingehend und andererseits zeigt die Wucht der israelischen Militärintervention, dass Israel massiv zivile Opfer in Kauf nimmt.
Seit 2018 war es so, dass bei Rafah ein zusätzlicher Grenzübergang eröffnet wurde, über den auch Waren in den Gazastreifen gelangten. Der wurde nicht von Israel kontrolliert.
Damit erhöht es den Druck, dass Palästinenserinnen und Palästinenser das Gebiet verlassen und Richtung Sinai gehen. Auf der anderen Seite werfen die Israeli den Ägyptern vor, sie hätten sich viel zu wenig um die Grenzsicherung gekümmert. Auch an diesem Vorwurf ist was dran. Bei der Bekämpfung der Tunnelwirtschaft ging es Ägypten nicht so sehr um die Hamas, sondern vor allem darum, den IS auf dem Sinai zu schädigen. Mein Eindruck ist tatsächlich, dass sich die ägyptischen Sicherheitsorgane mit der Hamas ganz gut verständigt haben. Seit 2018 war es so, dass bei Rafah ein zusätzlicher Grenzübergang eröffnet wurde, über den auch Waren in den Gazastreifen gelangten. Der wurde nicht von Israel kontrolliert.
Der israelische Aussenminister sprach von einer Übernahme der Kontrolle in diesem Korridor, Premier Netanjahu sprach von der Okkupation. Beides wäre für Ägypten eine rote Linie?
Ägypten ist nicht an einer militärischen Konfrontation mit Israel interessiert. Es will nicht selbst Konfliktpartei werden. Es wäre sicherlich wichtig, dass externe Akteure Druck auf Israel ausüben und deutlich machen, dass eine Vertreibung der Palästinenserinnen und Palästinenser auf den Sinai keine Option sein kann.
Das Gespräch führte Iwan Liebherr.