Der Krieg in Nahost hat eine neue Eskalationsstufe erreicht. Die libanesische Soziologin und Entwicklungshelferin Leila Solh berichtet von der prekären Situation auf Beiruts Strassen und kleinen Momenten der Hoffnung.
SRF News: Wie ist die aktuelle Situation in Beirut? Was sind die grössten Herausforderungen, mit denen Sie und Ihre Gemeinschaft im Moment konfrontiert sind?
Leila Solh: Es ist verrückt, wie viele Menschen in so kurzer Zeit aus ihrem Zuhause fliehen mussten. Seit dem Bürgerkrieg hat man so etwas nicht mehr erlebt. Die grösste Herausforderung ist die Unterbringung, vor allem von Familien. Die Menschen schlafen auf der Strasse oder in Autos. Und der Winter steht vor der Tür. Das Wetter hat bereits begonnen, umzuschlagen. Wir brauchen Decken und Matratzen. Viele öffentliche Schulen sind zwar geöffnet, aber sie haben nicht genügend Versorgungsmittel. Es fehlt an Wasser, an Säuglingsmilch. Man kann nicht duschen, die Toiletten funktionieren nicht.
Die staatlichen Institutionen verfügen nicht über die Ressourcen, um diese Art von Notfallmassnahmen zu bewältigen.
Wir haben noch keine internationale Hilfe erhalten, sind immer noch auf private Spenden angewiesen. Die Zivilgesellschaft ist sehr aktiv, es gibt viele Freiwillige, vor allem auch junge Menschen. Die lokalen Hilfsorganisationen sind gut vernetzt und können die Spenden entgegennehmen, aber das reicht nicht aus.
Was macht die Regierung momentan?
Der Staat ist nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch 2019 und der Explosion im Hafen von Beirut bereits sehr schwach. Die staatlichen Institutionen verfügen nicht über die Ressourcen, die personellen Kapazitäten oder das technische Wissen und das Know-how, um diese Art von Notfallmassnahmen zu bewältigen.
Wie beobachten Sie die jüngsten Ereignisse im Libanon, die Bodeninvasion von Israel und die Reaktion des Irans?
Man spürt tausend Emotionen im Bruchteil einer Sekunde. Man hört sehr viele widersprüchliche Nachrichten, von den israelischen Nachrichtenagenturen und dem Westen, aber auch von den lokalen Nachrichtenagenturen hier vor Ort. Nachdem der Iran Raketen abgefeuert hat, wurde dies unterschiedlich aufgenommen. Viele haben Angst, dass es jetzt zu einem richtigen Krieg eskalieren könnte. Gleichzeitig gab es aber auch ein Gefühl der Hoffnung oder ein moralisches Gefühl: «Okay, sie haben zurückgeschlagen und das lässt vielleicht Raum für eine Art von Verhandlung.»
Was wir hier erleben, ist eine humanitäre Katastrophe.
Was bedeutet dieser Konflikt für Ihr Land?
Unser Land ist zerbrochen. Es ist in Stücke zerbrochen. Ich möchte das wirklich sagen, ohne emotional zu werden, aber was wir hier erleben, ist eine humanitäre Katastrophe. All diese Vertriebenen ohne staatliche Infrastruktur, um diesen Menschen zu helfen, weder sozial noch physisch, und um eine Art Normalität wiederherzustellen. Die Menschen sind buchstäblich auf sich allein gestellt und versuchen, zu überleben. Es fühlt sich im Moment sehr dunkel an, wo wir sind. Wir sehen kein Ende in Sicht.
Erleben Sie auch Solidarität vor Ort?
Es gibt auch schöne Szenen in dieser schwierigen Situation. Hier im Libanon kommen beispielsweise viele Hauswarte aus Syrien oder Bangladesch. Sie verdienen vielleicht 200 Dollar im Monat, kommen selbst kaum über die Runden und können sich keine Familie leisten. Aber als ein paar Hauswarte von einer Familie erfuhren, die nicht genug Geld für Babynahrung hatte, gingen sie los, sammelten Geld und kauften Milch für die Familie.
Diese Art von Solidarität zeigt uns, dass wir eine starke Gemeinschaft sind. Wir werden bis zum Ende dafür kämpfen, um wenigstens füreinander da zu sein.
Das Gespräch führte Tamara von Allmen.