Putin in einer Lage, die er nicht erwartet hat? Daran könne sie sich nicht erinnern, sagt Tatjana Stanowaja. Die russische Politologin verfolgt Wladimir Putins Politik, seit dieser an der Macht ist. Sie kennt die russische Polit-Elite so gut wie wenige.
Doch genau dieser Fall des Unerwarteten sei jetzt eingetreten. Sein Plan sei gewesen, ähnlich vorzugehen wie im Falle der Annexion der Krim. Nur im viel grösseren Massstab. Und mit hoher Geschwindigkeit.
Gescheiterter Plan Putins
«Die russische Führung war überzeugt, dass die ukrainische Regierung sofort zusammenbricht, dass Präsident Selenski zurücktritt und sich irgendwo versteckt. Und dass Russland dieses Vakuum spielend füllen, neue Leute einsetzen und Wahlen abhalten kann», sagt Tatjana Stanowaja. Dieser Plan ist gescheitert.
Die russische Führung war überzeugt, dass die ukrainische Regierung sofort zusammenbricht.
Sanktionen sind laut der Politologin vom innersten Zirkel der Macht durchaus erwartet worden. Putin sehe Sanktionen als etwas, das nichts mit seinen Taten zu tun habe. Der Westen wolle Russland ganz grundsätzlich an der Entwicklung hindern, so seine Überzeugung. Deshalb richteten Putin und sein engstes Umfeld die Entscheide nicht auf die möglichen Folgen von Sanktionen aus.
Doch so denke nur eine sehr kleine Gruppe. Für den Rest des russischen Establishments, für die Unternehmen und die ganze Gesellschaft seien die Sanktionen eine Katastrophe, die sie unvorbereitet treffen würden.
Die Vorbereitungen liefen im Geheimen, niemand wusste davon.
Dasselbe Muster gilt gemäss der Politologin für die Vorbereitung dieses Kriegs. Auch die sei auf den innersten Zirkel beschränkt gewesen, auf eine kleine Gruppe, vor allem von hohen Militärs: «Die Vorbereitungen liefen im Geheimen, niemand wusste davon. Und das hat offene Diskussionen und eine echte Analyse der Lage verhindert.»
Natürlich habe die russische Elite die Warnungen der USA vor einer bevorstehenden Invasion gehört, diese aber nicht geglaubt. Man habe gedacht, die Eskalation sei im Grunde genommen ein grosser Bluff. Doch jetzt, wo klar ist, was vor sich geht, sei es durchaus möglich, dass zu Putin andere Stimmen durchdringen würden. Dass gewisse Leute, auch aus den Reihen der Sicherheitskräfte, ihm sagten, man müsse die Lage neu bewerten.
Allerdings sei ein grosser Teil von Putins Umfeld völlig verängstigt. Und die Handlungen des Präsidenten in Zweifel zu ziehen, sei für jeden und jede extrem riskant.
Putins drei Optionen
Entscheidend, so die Politologin, seien die nächsten Tage. Ihrer Meinung nach hat Putin drei Optionen:
Erstens: den Krieg ausweiten. Stanowaja ist allerdings überzeugt, dass Putin tatsächlich gedacht habe, die Ukraine ohne grosses Blutvergiessen unter Kontrolle bringen zu können. Und dass ein grosser Krieg wahrscheinlich nicht das sei, was Putin ursprünglich gewollt habe.
Die zweite Option: auf Zeit spielen und hoffen, dass Selenski irgendwie nachgebe.
Und die dritte: selber nachgeben – zumindest ein wenig. Etwas, was laut Stanowaja durchaus im Bereich des Möglichen liegt.
Hoffnung auf Verhandlungen
Denn sie sei nicht der Meinung, dass Putin den Verstand verloren habe. Putin habe einen emotionalen und falschen Entscheid getroffen. Das aber sei noch keine psychische Krankheit.
Deshalb sehe sie ein teilweises Einlenken im Bereich des Möglichen, ein Eingehen auf ernsthafte Verhandlungen, zum Beispiel mit den USA, über Eckwerte eines Kompromisses.
Putin ist der Anführer einer Atommacht, der denkt, dass die Existenz seines Landes auf dem Spiel steht.
Doch sie fügt an: «Putin fühlt sich in die Ecke gedrängt. Er ist der Anführer einer Atommacht, der denkt, dass die Existenz seines Landes auf dem Spiel steht.» Das müsse man sehr ernst nehmen.