Wenige Tage vor dem Grossangriff auf die Ukraine, im Februar 2022, klang es im russischen Staatsfernsehen so: «In einem heissen Krieg würden wir die Ukraine in zwei Tagen besiegen», sagte die Chefin des Staatssenders RT, Margarita Simonjan. «Was gibt es da überhaupt zu besiegen? Wir sprechen hier von der Ukraine.»
13 Monate später ist die Ukraine noch nicht besiegt. Nach den klaren Niederlagen an der Front, wie etwa nach der Rückeroberung von Cherson durch ukrainische Truppen im letzten November, gerieten die russischen Propagandamedien in Erklärungsnot.
Eine Erklärung hat Margarita Simonjan aber inzwischen gefunden. Vergangene Woche hat sie diese prägnant zusammengefasst: «Wir kämpfen nicht gegen die Ukraine, die Ukraine existiert nicht mehr», referierte Simonjan in einer der täglichen Propagandatalkshows. «Wir kämpfen gegen die gesamte Nato und gegen viele weitere Länder. Daran möchte ich die Skeptiker erinnern, die jetzt jammern, wenn sich unsere Truppen zurückziehen müssen.»
Die Botschaft ist klar: Russland schlage sich tapfer gegen einen mächtigen Gegner, den kollektiven Westen. Gewisse Rückschläge seien also zu erwarten. Das Regime hofft, seinem Volk so auch die bevorstehende Gegenoffensive der ukrainischen Armee zu erklären.
Neues Narrativ bringt Vorteile
Das unabhängige russische Medium «Meduza» berichtete jüngst, die Fernsehpropagandisten hätten vom Kreml neue Anweisungen erhalten. Die ukrainische Kampfkraft solle man auf keinen Fall herunterspielen. Gelinge der ukrainische Gegenangriff, habe man eine triftige Ausrede parat. Wenn man die Ukrainer aber zurückschlage, könne man einen grossen Sieg feiern.
Das neue Kriegsnarrativ wird auch von höchster Stelle verbreitet. In seiner Rede am Tag des Sieges der Sowjetunion über Nazi-Deutschland am 9. Mai wetterte Wladimir Putin von der Bedrohung durch den Westen.
Wie schon die Nationalsozialisten habe der Westen einen echten Krieg gegen Russland entfesselt, sagte Putin am Gedenktag. Russlands Soldaten kämpften heute wieder, um die Zukunft des russischen Staates und des russischen Volkes zu verteidigen.
Verschiebung als eine Art Schadensbegrenzung
Putin spricht heute kaum mehr von den ursprünglich genannten Zielen der Spezialoperation: von der «Entmilitarisierung» und «Entnazifizierung» der Ukraine. Er bleibt vage darüber, wie ein Sieg in der Ukraine aussehen würde und wie man ihn erreiche. Das russische Volk soll auf einen längeren Krieg eingestellt werden, ohne erkennbaren Ausgang.
Diese Verschiebung des Narrativs hat viel mit Schadensbegrenzung zu tun. Doch für das Regime hat sie auch Vorteile. Bleibt Russland im permanenten Kriegszustand, kann Putin seine Anhänger mobilisieren und die Repression gegen seine Gegner beliebig verschärfen. Von einem längeren Krieg verspricht sich Putin auch höhere Chancen auf einen Sieg. Wenn der kriegsmüde Westen einmal aufhören sollte, die Ukraine zu unterstützen.
Letztlich aber hat Putin keine andere Wahl, den Krieg so lange weiterzuführen, bis Russland gewinnt. Schon die Rückschläge an der Front haben an seiner politischen Glaubwürdigkeit gekratzt. Eine Niederlage kommt also nicht infrage.