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Krise in Nahost Israel nahm sich keine Zeit zum Trauern

Der Krimi-Autor Dror Mishani über Trauer und Traumabewältigung in der israelischen Gesellschaft.

Eigentlich ist Dror Mishani Krimi-Autor. Doch nach den Anschlägen des 7. Oktobers begann der 49-jährige Israeli, ein Kriegstagebuch zu schreiben, das unter dem Titel «Fenster ohne Aussicht» erschienen ist.

«In einem Krimi geht es meistens um einen einzigen Mord, um ein einziges Verbrechen. In unserer Realität hingegen gab es beinahe täglich hunderte Tote». Angesichts dieser Realität weiterhin Krimis zu schreiben, erschien Mishani absurd.

Israel braucht diesen ewigen Krieg gegen die Palästinenser, damit wir uns nicht mehr als potenzielle Opfer fühlen. Das ist wirklich tragisch.
Autor: Dror Mishani Israelischer Schriftsteller

So wurde aus dem Krimi-Autor ein Tagebuchschreiber. Und ein Kolumnist: Wenige Tage nach dem Überfall der Hamas forderte Mishani in einem Zeitungsartikel, Israel solle zuerst um die Ermordeten trauern. Und dann darüber nachdenken, wie militärisch auf die Massaker zu reagieren sei.

Ewiger Krieg gegen die Palästinenser

Eine Ansicht, die in Israel wenige teilten. Doch Mishani ist überzeugt: Die Zeit für Trauer um die Opfer habe gefehlt. «Wir sind sofort zum Krieg übergegangen. Auch, um den Schmerz zu unterdrücken. Israel braucht diesen ewigen Krieg gegen die Palästinenser, damit wir uns nicht mehr als potenzielle Opfer fühlen. Das ist wirklich tragisch.»

Dror Mishani

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Lächelnder Mann in einem Restaurant mit Holzwänden.
Legende: Lukas Lienhard/Diogenes Verlag

Der 49-jährige Israeli hat fünf Kriminalromane geschrieben, die in deutscher Übersetzung im Diogenes-Verlag erschienen sind. Mit seinem Kriegstagebuch «Fenster ohne Aussicht» legt er erstmals ein nicht-fiktionales Buch vor. Mishani unterrichtet an der Universität Tel Aviv hebräische Literatur und schreibt derzeit an einem Drehbuch für eine Fernsehserie rund um die Polizeistation der Stadt Sderot, die am 7. Oktober 2023 von Terroristen angegriffen wurde. Er lebt mit seiner Familie in Tel Aviv.

Mishani sieht die israelische Gesellschaft in einem tiefen Trauma gefangen. Dafür gebe es historische Gründe: Der 7. Oktober habe Erinnerungen an den Holocaust und die antisemitischen Pogrome in Osteuropa im 19. Jahrhundert geweckt.

«Doch unser Trauma rechtfertigt nicht alles. Es rechtfertigt nicht, andere Menschen zu traumatisieren. Und unsere Heilung garantiert es auch nicht.»

Frieden ist unpopulär

Das israelische Friedenslager ist schon seit Jahren geschrumpft. «Und jetzt ist es noch schwieriger geworden, für Frieden einzustehen», sagt Mishani, der kürzlich Gast beim Basel Peace Forum war. «Nur schon der Vorschlag, den Krieg in Gaza zu beenden, bringt mich in Konflikt mit vielen Israeli.» Auch mit seiner Tochter im Teenager-Alter führe er viele Streitgespräche. Sie teile seine Ansichten ganz und gar nicht.

Wir wissen, dass es in Gaza Hamas-Aktivisten gibt. Aber es gibt auch Kindergärtnerinnen, Künstler, Köche, Ärzte und Pfleger.
Autor: Dror Mishani Israelischer Schriftsteller

Dror Mishani hält trotzdem am Frieden fest. Damit dieser möglich werde, müsse die israelische Gesellschaft die Tatsache akzeptieren, dass nicht alle Palästinenser ihre Feinde seien. Dasselbe gelte auch für die palästinensische Gesellschaft. Aber als Israeli sei es seine Aufgabe, die eigene Seite anzusprechen.

Ausweg nur mittels Gesprächen

«Unsere Regierung und die Armee fördern die weit verbreitete Ansicht, dass es in Gaza keine Zivilisten gibt und alle dort Hamas unterstützen. Dieser Ansicht müssen wir entgegentreten und sie zurückweisen. Wir wissen, dass es in Gaza Hamas-Aktivisten gibt. Aber es gibt auch Kindergärtnerinnen, Künstler, Köche, Ärzte und Pfleger. Nicht alle von ihnen unterstützen Hamas, und nicht alle von ihnen wollen für immer in Feindschaft mit uns leben», sagt Mishani.

Wenn Israeli und Palästinenser einander wahrnähmen und miteinander redeten – dann könne es einen Ausweg aus dem Kreislauf der Gewalt geben.

Echo der Zeit, 10.2.2025, 18:00 Uhr

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