Europas Wohlstand und politische Stabilität locken viele Migrantinnen und Migranten an. Das schafft Probleme und polarisiert. Gleichzeitig fehlen Fachkräfte. Mit Staaten wie Marokko, Algerien und Tunesien zu kooperieren, würde sich lohnen, sagt die Maghreb-Expertin Isabelle Werenfels von der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP in Berlin.
Die Willkommenskultur der Ära Merkel ist vorbei: Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser will mehr Grenzkontrollen, SPD-Kanzler Olaf Scholz ist für Rückführungen illegal Eingewanderter. «Ich sehe eine grosse Panik seit den Wahlen in Thüringen und in Sachsen, wo die AfD gewonnen beziehungsweise extrem gut abgeschnitten hat», sagt Politologin Isabelle Werenfels.
Viele Deutsche wollen weniger Einwanderung. Jetzt versuchen alle Parteien zu zeigen, dass sie handlungsfähig und -willig sind. «Wenn die Regierung zeigen muss, dass sie schnell handeln kann, gibt es auch Schnellschüsse und auch bei den klassischen Parteien teilweise eine populistische Rhetorik», so Werenfels.
Es ist auch eine grosse Ratlosigkeit zu spüren. Niemand hat eine Lösung, es ist vielmehr viel Gebastel.
Isabelle Werenfels wird von der Bundesregierung als Expertin beigezogen, wenn es darum geht, ein Abkommen mit Algerien, Tunesien oder Marokko abzuschliessen, und natürlich auch, wenn es um Migration geht. Sie stellt fest, dass sich die Stimmung verändert hat. Aus den Ministerien kommen mehr Anrufe, alles ist etwas dringender und muss schneller gehen, erzählt sie. «Es ist auch eine grosse Ratlosigkeit zu spüren. Niemand hat eine Lösung, es ist vielmehr viel Gebastel, weil man nicht so richtig weiss, wie man das alles in den Griff bekommt in der Innen- sowie in der Aussenpolitik.»
Maghreb: viele Junge, hohe Arbeitslosigkeit – und zum Teil hohe Bildung
Die Bevölkerung im Maghreb ist jung. Die Arbeitslosigkeit beträgt faktisch 30 Prozent. Grundsätzlich, so Isabelle Werenfels, sei der Stadt-Land-Unterschied gross. Die Küstengebiete entwickeln sich schneller, und in Marokko zum Beispiel haben gewisse Städte einen Modernisierungsschub erlebt: Es gibt einen Schnellzug, in Rabat steht ein Opernhaus von der irakisch-britischen Stararchitektin Zaha Hadid. Auch viele Start-ups entstehen. «Aber letztlich sind es nicht so viele, die es nach oben schaffen».
Jugendliche hätten relativ wenig Chancen auf eine Karriere. Oft zähle nicht die Qualifikation, sondern Beziehungen. Darum wollten auch Leute auswandern, die Jobs haben. Auch das Gefühl, die Gesellschaft sei zu konservativ und sozial einengend, bewege viele zur Auswanderung.
Fachkräfte: das Gold des Maghreb
Isabelle Werenfels hat auf ihren Reisen durch Marokko, Algerien und Tunesien festgestellt, dass das Bildungsniveau hoch ist. Bei den Naturwissenschaften im Gymnasium seien die Kenntnisse der Schüler besser als in Deutschland. Zehntausende Gesundheitsfachleute, Ärztinnen und Pflegekräfte haben ihre nordafrikanische Heimat in Richtung Europa verlassen. Allein aus Tunesien sind 36'000 Ingenieure Richtung Europa ausgewandert.
Europa müsse die Visumsfrage überdenken, wenn es Fachkräfte wolle, und Visa für Arbeit und Ausbildung erteilen. Zurzeit fehlten diese, besonders in Ostdeutschland, wo so viele Leute die AfD wählten und sagten, sie wollten keine Migranten und Migrantinnen.
Ein weiterer Ansatzpunkt: Europa könnte die Maghreb-Staaten vor Ort bei der dualen Ausbildung unterstützen. Firmen, die vor Ort investieren und staatliche Kredite und Garantien haben, könnte man nahelegen, auch Ausbildungsplätze zu schaffen.