Kaum waren die offiziellen Feierlichkeiten vorbei, sass der neue US-Präsident am Schreibtisch im Oval Office und unterzeichnete Verordnungen. Denn es gibt viel zu tun. Claudia Brühwiler, USA-Expertin und Privatdozentin an der Universität St. Gallen, erklärt, welche Baustellen Joe Bidens Amtszeit prägen werden.
Dem Hass entgegentreten: Während Präsidenten ihre Antrittsrede für gewöhnlich an Hunderttausende Menschen am Fusse des Kapitols richten, sprach Biden vor handverlesenen Besuchern. Viele gehörten dem Washingtoner Polit-Establishment an – dem Feindbild der Trump-Anhänger. Nun will Biden die USA wieder einen.
Leichter gesagt als getan, findet Brühwiler. Auch der neue Präsident macht sich keine Illusionen. «Er kann aber als Staatsoberhaupt einen neuen Ton anschlagen und zeigen, dass man mit Differenzen anders umgehen kann als sie zu befeuern.» In seiner Rede ermahnte Biden die Menschen zu einem zivilen Austausch. Meinungsverschiedenheiten seien kein Kriegsgrund, sondern Teil des politischen Diskurses.
Überwindung des Rassismus: Die «Black Lives Matter»-Proteste vom Sommer hallen noch immer nach. Mit seinem Kabinett, das zu mehr als der Hälfte mit Angehörigen von «people of color» besetzt ist, sendete Biden ein wichtiges Signal aus, sagt die US-Expertin. Entscheidend werde aber sein, auf Gesetzesebene aktiv zu werden.
Ein erster Schritt ist getan: Biden hat bereits einen Erlass unterzeichnet, dass er Rassismus auf Bundesebene angehen will. «Damit hat er anerkannt, dass es systemischen Rassismus in den USA gibt», sagt Brühwiler. Biden sei sich bewusst, dass mit den mit Konflikten und Widersprüchen der US-Gesellschaft anders umgehen müsse als bis anhin.
Trump «revidieren», Vertrauen stärken: Erklärtes Ziel von Biden ist, kontroverse Entscheide der Trump-Regierung rückgängig zu machen. Neben dem Wiederbeitritt zum Pariser Klimaabkommen will er eine umfassende Immigrationsreform auf den Weg bringen und die USA wieder stärker in internationale Bündnisse einbinden, insbesondere die Nato.
Der versierte Aussenpolitiker Biden plane eine Rückkehr zu Bewährtem, so Brühwiler. «Neben dem Multilateralismus wird sein Fokus aber auf der Innenpolitik liegen.»
Pandemie-Bewältigung: Bidens Ziel, das Land zu heilen, erhält angesichts von 400'000 Covid-Opfern in den USA eine umso tragischere Note. Viele Menschen haben Angehörige verloren, Existenzen wurden zerstört, es fehlt an Geld und Zuversicht im Land. «Wir werden daran gemessen, wie wir die Pandemie bewältigen», sagte Biden in seiner Antrittsrede.
Bidens ambitiöser Plan: In 100 Tagen sollen 100 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner geimpft werden. Die Zusammenarbeit mit der WHO wird wieder aufgenommen und es soll ein gewaltiges Corona-Hilfspaket geben. «Er kann es sicher besser machen als sein Vorgänger. Ob es dann aufgeht, wissen wir nicht», sagt Brühwiler.
Rückkehr zur Sachpolitik: Um der US-Politik seinen Stempel aufzudrücken, braucht Biden die Rückendeckung des Kongresses. Eine Herkulesaufgabe angesichts der tiefen Gräben im Parlament und republikanischer Abgeordneter, deren Wählerbasis zu guten Teilen dem «Trumpismus» frönt.
Das Schöne am Präsidentenamt sei, dass man nicht alles gemeinsam mit der Opposition machen müsse, so die USA-Expertin. Zumal die Demokraten in beiden Parlamentskammern eine Mehrheit haben. Und: Auch viele Republikaner sehnten eine Rückkehr zu Normalität und Berechenbarkeit herbei. «Eine ‹Kumbaya›-Stimmung wird es aber nicht geben.»