Die Jugend wählt rechts. So lauten viele Schlagzeilen nach den Europawahlen vom Wochenende. Tatsächlich gingen in Frankreich viele junge Stimmen an den Rassemblement National und in Deutschland zur AfD. Eine Wahl der Jungen gegen das Establishment ortet auch Politikwissenschafter Gero Neugebauer. Er relativiert zugleich die Gewinne der AfD.
SRF News: Vor fünf Jahren sprach man von der «Klimajugend» und den Grünen als deren beliebtester Partei. Welches Etikett würden Sie heute den jungen Wählerinnen und Wählern geben?
Gero Neugebauer: Heute würde ich sie eher als eine irritierte, herumwählende Jugend bezeichnen. Sie hat nicht nur den Grünen die Stimmen entzogen, sondern sie hat kleine Parteien und auch AfD gewählt, sehr zur Überraschung der grossen Parteien.
Die Union liegt auf Platz eins bei den Jungen, dann kommen die AfD und viele Kleinstparteien. Regierungsparteien wurden kaum gewählt. Kann man von einer Wahl gegen das Establishment sprechen?
Das kann man. Das Gesamtergebnis wird durch das Einzelergebnis der Grünen bestimmt. Der Gewinn von einem Prozent der SPD ist bedeutungslos. Das hat unterschiedliche Ursachen: Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Entwicklung, aber auch mit der Haltung der Koalition beim Thema Friedenssicherung. Dazu offene Fragen zur eigenen Zukunft. Erst dann kommt das Klima.
Es kann also nicht pauschal von «der Jugend» gesprochen werden, die rechts gewählt hat?
Das wäre tatsächlich zu pauschal. Erinnert sei an die Bilder von Menschen dieser Altersgruppe, die kürzlich Champagner trinkend fröhlich Lieder über «Deutschland den Deutschen sangen». Andere Junge machen in Fernsehinterviews deutlich, dass sie nicht wählen wollten, mit ihrer sozialen Lage unzufrieden seien und ihre Interessen vor allem in den Programmen der Koalitionsparteien nicht fänden. Darunter die Grünen, welche für eine Rentenpolitik sind, die die Lasten in die Zukunft verlagert und ihre Klimapolitik relativiert.
Insbesondere jene Jungen mit unsicherer Zukunft bei Ausbildung und Arbeitsplatz machten da nicht mehr mit.
Insbesondere jene Jungen mit unsicherer Zukunft bei Ausbildung und Arbeitsplatz machten da nicht mehr mit. Sie wechseln zur CDU, welche Kompetenz in Fragen von Wirtschaft und Sicherheit verspricht. Oder zur AfD, welche sich als Opposition aufstellt und zumindest nicht das gleiche Mass an Sicherheit verspricht, wie sie die Regierungsparteien vorgaukeln.
Was sind das für Jugendliche, jene 16 Prozent der 16- bis 24-Jährigen in Deutschland, welche AfD gewählt haben?
Es sind häufiger Jugendliche in den ostdeutschen Bundesländern. Oft Jugendliche, die durch ihre Sozialisation darauf geeicht sind, misstrauisch gegenüber dem Staat zu sein. Jene, die erfahren haben, wie ihre Eltern nach der Wiedervereinigung ihre Wünsche nicht erfüllen konnten und sich in den eigenen Erwartungen enttäuscht sehen. Es sind wesentlich mehr männliche Jugendliche mit formal geringer Bildung, die in den Dörfern hängenblieben, von der Stütze, Oma oder gelegentlicher Schwarzarbeit leben. Anders die jungen Frauen, die vermehrt in die alten Bundesländer, nach Österreich oder in die Schweiz arbeiten gehen.
Insofern sind auch die AfD-Gewinne nicht zwingend für die Zukunft gegeben.
Viele Jugendliche wählen also ihrer aktuellen Lebenssituation heraus und binden sich weniger an eine bestimmte Partei?
So würde ich das auch formulieren. Das zeigen auch die Resultate der Kleinstparteien häufig mit Lösungen im direkten persönlichen Interesse der Jugendlichen wie etwa Tierschutz oder bestimmte Klima-Massnahmen. Insofern sind auch die AfD-Gewinne nicht zwingend für die Zukunft gegeben.
Das Gespräch führte Brigitte Kramer.
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