Zehn Tage nach der verheerenden Flutkatastrophe im Osten Libyens mit mehr als 11'000 Todesopfern herrscht Wut gegenüber den Behörden wegen schwerer Versäumnisse. Doch auch die humanitäre Not der Menschen in der am meisten betroffenen Stadt Derna ist immens. Libyen-Kenner Wolfram Lacher über die Hintergründe.
SRF News: Zu Wochenbeginn kam es zu Protesten der Bevölkerung im am stärksten von der Katastrophe betroffenen Derna. Was wissen Sie darüber?
Wolfram Lacher: Protestiert haben Überlebende aus Derna, die ihre Wut äussern – etwa gegen den Parlamentspräsidenten und seinen Neffen, den er zum Bürgermeister von Derna ernannt hatte. Beide gelten als hochgradig korrupt.
Kritik an Machthaber Haftar würde von seinen Kräften sofort mit eiserner Hand beantwortet. Das wissen alle.
Bei den Protesten bisher nicht gefallen ist der Name von Chalifa Haftar, dem Machthaber im Osten Libyens – obschon alle wissen, dass Haftar die direkte Verantwortung für die Katastrophe trägt. Auf seinen Befehl hin war am Katastrophentag eine Ausgangssperre verhängt worden, kurz darauf brachen die beiden Dämme im Hinterland und schwemmten hunderte Häuser und tausende Menschen weg. Kritik an Haftar würde von seinen Kräften aber sofort mit eiserner Hand beantwortet. Auch das wissen alle.
Wie reagieren Haftars Behörden auf die Proteste?
Zunächst wurden alle Kommunikationsmittel – Mobiltelefonie und Internet – abgeschaltet. So sollte die Dynamik der Proteste gebrochen werden. Auch wurden einige Personen verhaftet, die inzwischen aber wieder frei sind. Zum einen soll die Bevölkerung also eingeschüchtert werden, zum andern wird die öffentliche Wahrnehmung in Libyen und im Ausland stark beeinflusst. Man will kontrollieren, was nach aussen dringt.
Gemäss Berichten werden Helfer von NGOs und Journalistinnen ausgewiesen?
Sicher ist, dass Hilfsorganisationen teilweise behindert wurden. Alle Hilfe wird kontrolliert und muss durch die Hände von Haftars Sohn gehen. So erscheint Haftar bei der Bevölkerung als zentraler Mann bei den Hilfsaktionen.
Die Arbeit der Journalisten vor Ort wurde von Anfang an stark behindert.
Was die Journalisten betrifft: Ihre Arbeit wurde von Anfang an stark behindert, sie konnten sich kaum frei bewegen, Gespräche wurden von Bewachern unterbrochen. Mittlerweile werden keine neuen Journalisten mehr in die Krisenregion gelassen.
Lässt sich die Bevölkerung von Haftar einschüchtern?
Das ist eine zentrale Frage – die Reaktionen der Bevölkerung auf die Katastrophe kann zur Gefahr für Haftar oder auch andere Mächtige in Libyen werden. In Derna haben so viele Menschen so viel verloren, dass sie kaum mehr etwas zu verlieren haben. Eine Frage ist auch, ob sich die Proteste in andere Städte ausbreiten können. Bisher war das nicht der Fall – und die Voraussetzungen dafür sind schwierig.
Es ist sehr schwierig für jene, die die Mächtigen im Land satthaben, zusammenzukommen und grössere Proteste zu veranstalten.
Denn es besteht die Gefahr, dass solche Proteste von Mächtigen im Land manipuliert oder missbraucht werden könnten – gegen ihre Rivalen. Allein der Verdacht, dass das geschehen könnte, macht die Leute misstrauisch, dabei mitzumachen. Entsprechend schwierig ist es für all die Libyerinnen und Libyer, die die Mächtigen im Land satthaben, zusammenzukommen und grössere Proteste zu veranstalten.
Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.