Bei den Nationalwahlen in Frankreich erreichte das Linksbündnis am meisten Sitze, und bei der Wahl in Grossbritannien konnte sich die Labour-Partei gegen die konservativen Tories behaupten. Bei den Europawahlen vor einem Monat triumphierten in vielen Ländern zwar rechte Parteien, doch in Schweden und Finnland hatten Grüne und Linke Stimmen dazugewonnen. Schlägt das Pendel der Politik in Europa jetzt um? Der Politikwissenschaftler Jonathan Slapin ordnet ein.
SRF News: Wie erklären Sie sich diese Erfolge der linken Parteien?
Jonathan Slapin: Der Aufruf zu Neuwahlen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron kam überraschend. Nach der Niederlage bei der Europawahl haben sich linke Parteien in Frankreich zu einem Bündnis zusammengeschlossen, um den Sieg des Rassemblement National (RN) und damit einen Rechtsruck innerhalb Frankreichs zu vermeiden.
Der Erfolg der Labour-Partei in Grossbritannien hat hingegen überhaupt nichts mit den Europawahlen zu tun, da das Land seit dem Brexit auch nicht mehr ein Mitgliedstaat der EU ist. Anders als die Wahlen in Frankreich war die Wahl in Grossbritannien geplant und die Zeit war reif für einen Regierungswechsel.
Der Erfolg der Linken ist demzufolge nicht als Reaktionen auf die Europawahlen zu deuten.
Man muss differenzieren: Einerseits ist ein nationales Parlament natürlich ein anderes Organ als das Europaparlament. Diese beiden Organe werden auch von der Wählerschaft unterschiedlich betrachtet. Andererseits gestalten sich die Regeln dieser Wahlen auch verschieden: Während das Europaparlament proportional gewählt wird, gilt bei den französischen nationalen Wahlen der Mehrheitsentscheid. Bei den Wahlen in Frankreich haben sich die Bevölkerung und teils auch Präsident Macron dazu entschieden, sich strategisch zu positionieren. Die Rechte konnte so innerhalb des Mehrheitssystems besiegt werden.
Sowohl bei der Europawahl als auch bei den Nationalwahlen in Frankreich und Grossbritannien zeichnet sich jeweils eine Polarisierung ab.
Nach den Europawahlen war von einem «Rechtsruck» die Rede. Verhärten sich jetzt die Fronten?
In gewisser Weise, ja. Wir müssen uns aber auch die Wahlbeteiligung anschauen. Diese war bei den Nationalwahlen viel höher als bei den Europawahlen, teilweise war die Wählerschaft bei diesen zwei Wahlen auch unterschiedlich.
Sowohl bei der Europawahl als auch bei den Nationalwahlen in Frankreich und Grossbritannien zeichnet sich aber eine Polarisierung ab: Trotz des Erfolgs der Linken in Frankreich erzielten die Rechtspopulisten um Marine Le Pen ihre besten Ergebnisse auf Nationalebene. Auch wenn die Erwartungen der Rechten nicht erfüllt werden konnten, gewannen sie deutlich mehr Sitze als noch vor einigen Jahren.
Das Pendel in der europäischen Politik schlägt also nicht um?
Ein Wechsel der Erfolge zwischen Links und Rechts lässt sich immer beobachten. Interessant ist aber eben die Polarisierung. Und ein wichtiger Punkt scheint mir auch die wachsende Zahl an Parteien: Parteien, die früher nie einen Sitz im Parlament innehatten, konnten nun mehrere Sitze für sich gewinnen.
Ob und wie die Rechten auf dieses Wahlergebnis in Frankreich reagieren, wird sich zeigen.
Was bedeutet dieses Ergebnis in Frankreich für die Demokratie?
Die Regierungsbildung wird dadurch schwieriger. Wir haben in Frankreich jetzt die aussergewöhnliche Situation, dass man noch nicht weiss, wer die Regierung führen und Ministerpräsident wird. Es müssen sicher Kompromisse eingegangen werden und Macron kann nicht beliebig entscheiden, mit wem er künftig regieren will. Ob und wie die Rechten auf dieses Wahlergebnis in Frankreich reagieren, wird sich zeigen.
Das Gespräch führte Lea Stadelmann.