Die Terrororganisation Hamas hat die für kommenden Samstag vorgesehene nächste Freilassung israelischer Geiseln auf unbestimmte Zeit verschoben. Die ohnehin fragile Waffenruhe im Gazastreifen scheint nun noch akuter gefährdet. Susanne Brunner erklärt die aktuelle Situation.
Warum kommt nach grossen Hoffnungen dieser Rückschritt bei der Geiselfreigabe?
Die Hamas behauptet, Israel habe das Abkommen in den letzten Wochen wiederholt verletzt: Israel habe die Rückkehr der Vertriebenen nach Nordgaza behindert, habe bombardiert und geschossen, und dabei mindestens 25 Palästinenserinnen und Palästinenser getötet, und viele der im Abkommen versprochenen Hilfsgüter seien nicht angekommen. Premier Netanjahu behauptete, Israel habe seinerseits die Bedingungen der Waffenruhe eingehalten, denn die Palästinenser, die seine Soldaten im Gazastreifen getötet hätten, hätten die Soldaten bedroht. Der israelische Premier Netanjahu will heute Morgen mit seinem Sicherheitskabinett diskutieren, wie Israel reagieren soll, falls die Hamas am Samstag keine weiteren Geiseln freilässt.
Wie gross ist die Gefahr, dass das Waffenstillstands-Abkommen ganz scheitert?
Sehr gross. In knapp drei Wochen müsste die zweite Phase der Waffenruhe beginnen, Israel müsste seine Armee komplett aus dem Gazastreifen zurückziehen. Das ist politisch umstritten. Netanjahus rechtsradikale Koalitionspartner fanden schon, die Waffenruhe sei ein Fehler. Ein grosser Teil der israelischen Bevölkerung findet, man solle erst die Geiseln heimbringen, bevor alle sterben und erst dann über eine Weiterführung des Krieges entscheiden. Nun hat US-Präsident Trump die Hamas gewarnt: Wenn die Hamas am Samstag keine Geiseln freilasse, solle sich Israel vom Abkommen zurückziehen und Zitat «die Hölle losbrechen lassen» – ausserdem drohte er Jordanien und Ägypten mit dem Entzug von Hilfsgeldern, sollten sie keine palästinensischen Flüchtlinge aufnehmen.
Welche Reaktionen von palästinensischer Seite gibt es?
Im Gazastreifen herrscht die Angst, der Krieg könne jederzeit wieder losgehen, wie Stimmen auf arabischen Fernsehsendern und in den sozialen Medien zeigen. Und für Angehörige palästinensischer Gefangener, die freikommen sollten, bricht eine Welt zusammen. Wenn die Hamas keine weiteren Geiseln freilässt, wird Israel auch keine palästinensischen Gefangenen freilassen. Israelische und palästinensische Gefangenen- und Menschenrechtsorganisationen berichten, Tausende Palästinenser sässen ohne Anklage im Gefängnis, etwa weil sie den Gaza-Krieg auf den sozialen Medien kritisieren, oder mit ihrer Kritik an der Besatzung von Israel als Hamas-Sympathisanten eingestuft werden. Schon am Samstag bangten die Menschen im Westjordanland, die Waffenruhe werde nicht halten, als die Hamas die drei abgemagerten und sichtlich verängstigen Geiseln vorführte.
Welche Rolle spielt die aktuelle US-Politik für die Region?
Die spielt eine grosse Rolle: Trumps Vorstellung, die USA würden den Gazastreifen übernehmen und die Bevölkerung umsiedeln, hat die Hamas mit Sicherheit bei ihrem Entscheid beeinflusst, ebenso Trumps Ankündigung, er werde in den nächsten Wochen entscheiden, ob Israel das besetzte Westjordanland annektieren dürfe. Andererseits setzen Angehörige der Geiseln ihre Hoffnungen auf Trump, weil er in ihren Augen die Waffenruhe und die Geiselfreilassung erst zustande gebracht hat.