In Libanon sind unter anhaltenden Angriffen der israelischen Luftwaffe auf Hisbollah-Ziele inzwischen rund 1.2 Millionen Menschen auf der Flucht. Tausende Chronischkranke und Verletzte müssen versorgt werden, das Gesundheitssystem steht nahe am Kollaps. Einblick in die aktuelle Situation gibt der Notarzt Joachim Gruber von Ärzte ohne Grenzen (MSF). Er befindet sich derzeit in Beirut.
SRF News: Wie ist die humanitäre Situation in Libanon?
Joachim Gruber: Sie ist schwierig. Hier in Beirut gibt es viele aus dem Süden vertriebene Menschen, die keinen Zugang mehr zu ihrer gewohnten Gesundheitsversorgung haben. Entsprechend fehlen nun Medikamente. Es fehlt auch an Unterkünften, viele Menschen schlafen auf der Strasse oder in ihrem Auto. Ausserdem fehlt es an sauberem Trinkwasser, was sich in einer steigenden Anzahl Durchfallerkrankungen zeigt.
Wie gehen Sie vor, damit die am dringendsten benötigten Medikamente wieder verfügbar sind?
Ärzte ohne Grenzen verfügt über einige mobile Kliniken, mit denen wir in die Gebiete fahren, wo die Vertriebenen derzeit leben. Dort machen wir Routine-Untersuchungen und geben Medikamente für chronische Leiden ab. In Fällen schwerer Krankheiten werden die Betroffenen in ein Spital eingeliefert.
Es fehlt an Pflegepersonal – kaum die Hälfte der Betten kann belegt werden.
Wie steht es grundsätzlich um die Gesundheitseinrichtungen in Libanon?
Ich war in zwei öffentlichen Spitälern in Beirut. Sie sind grundsätzlich sehr gut ausgerüstet. Es gibt genügend Platz, Untersuchungsgeräte oder Operationssäle. Doch Libanon leidet seit Jahren unter einer wirtschaftlichen Krise, weshalb viele Leute das Land verlassen haben. Nun fehlt hier in den Spitälern Pflegepersonal, sodass teilweise kaum die Hälfte der Betten belegt werden kann.
Was erschwert die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen in Libanon?
Es ist sehr schwierig, sich im Land fortzubewegen. Wir haben zwar eigene Fahrzeuge und Personal. Aber wir können nicht überall hinfahren – etwa nicht in den Süden des Landes. Es ist derzeit dort einfach zu gefährlich, wir erhalten keine Garantie, nicht bombardiert zu werden.
Auch medizinisches Personal ist nicht sicher in Libanon.
Wir appellieren deshalb auch immer wieder an die kriegführenden Parteien, das humanitäre Völkerrecht zu respektieren und Gesundheitspersonal, Krankenhäuser oder -autos nicht anzugreifen. Laut der WHO wurden allein in der letzten Woche in Libanon mehr als 20 Personen aus dem medizinischen Bereich getötet. Zahlreiche Spitäler mussten evakuiert werden, etliche wurden daraufhin beschossen. Auch medizinisches Personal ist also nicht sicher in Libanon.
Was muss getan werden, damit sich die humanitäre Situation im Land nicht weiter verschlechtert?
Eine dramatische Verbesserung der Lage wäre ein sofortiger Waffenstillstand. Derzeit sind rund 1.2 Millionen vertriebene Menschen in Libanon unterwegs. Sie alle brauchen medizinische Betreuung und sauberes Wasser.
Das Gesundheitssystem dürfte auch in Beirut sehr bald überfordert sein.
Wichtig wäre auch, dass die Bombardierungen von Spitälern aufhören würden, damit sich die medizinische Versorgung nicht immer weiter verschlechtert. In Beirut selber kann das Gesundheitssystem die Situation aktuell noch knapp meistern, es dürfte aber schon sehr bald überfordert sein. Entsprechend muss die Gesundheitsversorgung auch hier verstärkt werden.
Das Gespräch führte Tim Eggimann.