Die Bevölkerung im Gazastreifen leidet, trotzdem sprechen Hamas-Führer von einem «historischen Sieg». Einige von ihnen führen ein komfortables Leben im Ausland. Zum Beispiel Osama Hamdan. Aus Katar und Teheran propagiert er die Vernichtung Israels und ruft sein Volk unbeirrt zum Kampf auf.
An ihn hat der Schriftsteller Akram Surani aus Gaza-Stadt am Wochenende einen offenen Brief geschrieben. Für seine spitze Feder ist der 43-Jährige schon lange bekannt, auch über den Gazastreifen hinaus. Mit seinen satirischen Texten verschont er niemanden. Seinen Brief beginnt er mit beissender Ironie.
Mein Bruder Osama, ich schreibe dir diesen Brief in der verlorenen Zeit. Hier in Gaza-Stadt ist alles verloren, alle Quartiere sind verloren. Trotz dieser Verluste sind ich und zwei Millionen andere Menschen sehr beschäftigt, wir haben keine Zeit, wir sind schliesslich im Krieg!...
...aber, mein Bruder Hamdan, ich will dich nicht zu sehr langweilen. Vergiss die Bombardierungen, die Aggression, und dass wir hier zermalmt werden wie Harissa, ohne Zucker...denn Zucker haben wir keinen, es ist alles furchtbar teuer geworden, ausser der Preis unseres Lebens, das ist jetzt billiger, als du's dir vorstellen kannst!
Surani überlebte die ersten sechzehn Monate des Gaza-Kriegs. Mit seiner Frau und seinen beiden Kindern flüchtete er von einem notdürftigen Flüchtlingslager ins nächste.
Während der zweimonatigen Waffenruhe konnte er mit seiner Familie nach Gaza-Stadt zurückkehren, in seine Wohnung, die, wie durch ein Wunder, nur beschädigt, aber nicht zerstört worden ist. Dort harrt er aus und schreibt, seit die Waffenruhe wieder vorbei ist.
Herr Osama, wir haben keine Kleider. Ausser dem Kleidungsstück, das wir tragen, und ein anderes, das gewaschen werden müsste. Unser Geruch, möge Gott dich davor bewahren, ist kein Menschengeruch, sondern eher wie Schimmel, oder bestenfalls wie Brennholz, so widerlich, dass sich der Ekel selbst vor uns ekelt...
...unsere Kinder gehen nicht zur Schule, Schulbücher werden auf den Strassen, die keine mehr sind, als Brennstoff verkauft. Kürzlich kaufte ich welche, aber, verzeih mir, ich musste die Bücher, die Zukunft meiner Kinder, verbrennen, damit wir etwas Brot backen und ein paar Bohnen wärmen konnten.
Am Schluss seines Briefes fordert der Schriftsteller die Hamas zur Aufgabe ihrer Macht auf.
Wir zählen auf deinen Mut, das Blutvergiessen zu stoppen, die Kinder, die Frauen, die Menschen in Gaza zu verschonen, die Ehre und die Würde Gazas zu schützen, die Auslöschung von Gaza zu verhindern und den Umsiedlungsplan für die Gaza-Bevölkerung aufzuhalten...
...die Väter und Mütter von Gaza haben ihren Stolz und einen grossen Teil ihrer Würde aufgegeben, um das Leben ihrer Kinder zu retten. Es ist also keine Schande, wenn du aufgibst – deinem Volk zuliebe.
Ein öffentlicher Aufruf an die Hamas, ihren Krieg gegen Israel endlich aufzugeben: das ist für einen Palästinenser gefährlich. Obwohl die Kritik an der Hamas im Gazastreifen schon seit Monaten immer offener ausgesprochen wird. Was auch Folgen hat: Proteste unterbindet die Hamas mit Gewalt.
Im Juli letzten Jahres wurde ein 35-jähriger Protestführer von maskierten Männern spitalreif geschlagen – mitten im Krieg. Ist Kritik an der Hamas Todesmut? Nein, sagt Surani in einer Sprachnachricht aus Gaza-Stadt. «Das ist unsere Rolle als Schriftsteller, als gebildete Menschen, als Väter und als Vertriebene: Uns hat man so zerstört und erniedrigt, dass wir sprechen müssen!»
Leben in der Tyrannei
Der Schriftsteller weist darauf hin, dass er seit zwanzig Jahren schreibt, und dass Leute wie er die Hamas immer wieder kritisiert haben, lange vor dem Krieg. «Wir haben immer gefordert, dass sich die Umstände ändern müssen. Wir leben in einer Tyrannei.»
Die Hamas kontrolliere Gaza allein, ausser ihr sei niemand an der Regierung beteiligt. «Und jetzt erleben wir die Konsequenzen aufs Schlimmste: Wir wollen, dass das aufhört. Die Hamas muss eine Lösung finden für uns, denn sie trägt die Verantwortung für Gaza. Sie muss zurücktreten. Aufgeben. Zum Wohle ihres Volkes.»
In der Nacht, als der Schriftsteller seine Sprachnachrichten schickt, stürmt es im Gazastreifen. Gleichzeitig fliegen israelische Kampfjets Angriffe. Er beschreibt, wie die Menschen mit letzter Kraft zwischen den Ruinen ums Überleben kämpfen. All das bekämen Hamas-Führer wie Osama Hamdan nur am Fernsehen, in den Nachrichten mit, weil sie im Ausland leben.
Der Glaube an Gaza schwindet
«Gaza ist eine Zombiestadt. Eine Abfallmulde. Es ist schrecklich, und widerlich», sagt Surani. Heute würden Palästinenser nicht mehr an eine nationale Identität, an Freiheit, an einen eigenen Staat denken. «Sie denken nur noch ans nächste Hilfspaket und an etwas Mehl. Oder sie wollen einfach nur weg. Das ist ein grosses Problem. Früher glaubten wir an diesen Ort, aber jetzt nicht mehr. Und genau das wollen die Israeli: dass wir auswandern.»
Am Wochenende hat die israelische Regierung die Schaffung eines Büros bewilligt, das der Gazabevölkerung die Auswanderung in aufnahmewillige Drittländer ermöglichen soll.