Die 47-jährige Premierministerin von Estland, Kaja Kallas, ist das bekannteste politische Gesicht des Baltikums und war auch als Nato-Generalsekretärin gehandelt worden. Doch eine, welche die Russen zum Frühstück verspeisen wolle, sei zu heikel, war aus europäischen Hauptstädten zu hören.
Kaja Kallas gilt als die «neue Eiserne Lady Europas». An der letzten Münchner Sicherheitskonferenz im vergangenen Februar zitierte sie den bekannten Osteuropa-Historiker Timothy Snyder, der geschrieben habe, damit ein Land besser werde, müsse es seinen letzten kolonialen Krieg verlieren. So müsse Putins Russland in der Ukraine verlieren, um ein besseres Land zu werden, fügte Kallas hinzu.
Wir meinen, wir müssten Russland etwas anbieten, um es zu besänftigen. Doch das hat noch nie geklappt.
Schon nach der russischen Annexion der Krim 2014 hatte Kallas vor Russland gewarnt, wie viele in Ost- und Nordeuropa. Im Westen war die Warnung aber als alarmistischer «Baltensound» abgetan worden. Kallas kritisiert, dass der Westen immer das Gefühl habe, Russland etwas anbieten zu müssen, um es zu besänftigen.
Dabei halte sich Russland aus Prinzip nicht an die Prinzipien des Völkerrechts. Für Moskau seien völkerrechtliche Verträge bloss «politische Manöver». Als Beispiel nannte Kaja Kallas das Budapester Memorandum: Die Ukraine gab damals die Atomwaffen auf seinem Boden an Russland ab und Moskau sicherte im Gegenzug zu, die Souveränität und die Grenzen der Ukraine zu respektieren.
Kaya Kallas fordert, dass der russische Präsident Wladimir Putin als Kriegsverbrecher vor ein internationales Gericht gestellt wird. Dieser konterte, indem er sie zur Fahndung ausschrieb. Kallas aber zeigte sich unbeeindruckt: «Sie wollen mir damit Angst machen. Die einzige Antwort darauf ist, keine Angst zu haben.»
Belastende Geschichte mit Russland
Estland hat eine lange Geschichte mit Russland. Knapp 50 Jahre stand das Land unter sowjetischer Herrschaft. Auch Kallas hat eine Geschichte mit Russland. Ihr Grossvater war einer der Gründerväter des ersten freien Estlands 1918, das sich damals von Russland löste.
Ihre Mutter, Grossmutter und Urgrossmutter wurden – wie so viele aus Estland – auf Stalins Befehl hin 1949 nach Sibirien deportiert, nachdem das Land nach dem Zweiten Weltkrieg wieder unter russisch-sowjetische Herrschaft geriet.
Damit sich die Geschichte nicht wiederholt, investiert Estland heute viel in seine Armee, nämlich 3.2 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Das kleine Land mit 1.3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern hat 60'000 ukrainische Flüchtlinge aufgenommen. Das ist pro Kopf mehr als jedes andere Land.
Spürbare Folgen durch Ukrainekrieg
Kaja Kallas ist das Gesicht des modernen, digitalen Baltikums. Sie ist Anwältin, sass als Abgeordnete im Europaparlament, wurde 2021 Premierministerin und fuhr 2023 einen erneuten und triumphalen Wahlsieg ein.
Doch der Ukrainekrieg hatte auch für Estland seinen Preis. Die Inflation stieg 2022 auf 20 Prozent. Die Premierministerin erhöhte in der Folge die Steuern auf Autos, Strom, Alkohol und Tabak und hat massiv an Popularität verloren.
Ihren Wechsel nach Brüssel begrüssen alle Esten und Estinnen. Die einen aus Stolz, dass ihr kleines Land nun am Tisch der Grossen sitzt. Die anderen, weil sie froh sind, dass die zunehmend unbeliebte Premierministerin das Land verlässt.