Der «Süpermann» von Berlin-Neukölln, als den ihn «Die Zeit» einmal porträtiert hat, ist besorgt. Kazim Erdogan, Psychologe und Soziologe im Unruhestand, erzieht seit bald 20 Jahren türkische Männer, hinterfragt in Selbsthilfegruppen tradierte Vaterrollen, diskutiert Themen wie Toleranz, Gewalt, Suchtprobleme. Er organisiert Elternversammlungen oder Wochen der Sprache und des Lesens.
Über Kazim Erdogans enormem sozialen Engagement steht der Gemeinsinn, das Miteinander, die Integration von Zugewanderten. Das erzkonservative Wahlprogramm der «Demokratischen Allianz für Vielfalt und Aufbruch» (DAVA), mit dem sich die neue politische Vereinigung an die türkische Community richtet, bereitet ihm deshalb Bauchschmerzen: «Diese Bewegung spaltet das, was wir mit Mühe und Not seit Jahrzehnten versuchen zu basteln.»
Das DAVA-Wahlprogramm für die Europawahlen steht zwar für die Förderung von Integration und Teilhabe, liest sich aber als Abgrenzung. Die Vereinigung sieht Türkeistämmige und Muslime in der Opferrolle. Die DAVA – noch ist sie keine Partei – will den Islam schützen und laut Wahlprogramm «unsachgemässe Darstellungen des Islam» korrigieren, gar gesetzlich regeln.
DAVA legt grossen Wert auf die Bewahrung traditioneller Familienstrukturen; setzt auf einen Ausbau des Wohlfahrtstaats und eine Flüchtlingspolitik «ohne ideologische Vorbehalte». Damit will DAVA Türkeistämmigen und wahlberechtigten Muslimen in Deutschland eine politische Heimat bieten.
Wir sind in der Politik unterpräsentiert.
«Wir sind in der Politik unterrepräsentiert», betont Spitzenkandidat Mustafa Yoldas, Migranten würden von den etablierten Parteien allenfalls als Alibi-Türken aufgestellt. Dass doch aber hunderte Menschen mit türkischer und/oder muslimischer Zuwanderungsgeschichte in bestehende Parteien integriert sind, in Kommunal- und Landesparlamenten, im Bundestag, in Ministerien und der Regierung, lässt DAVA-Chef Tayfik Özcan nicht gelten.
30 Jahre lang besass der 53-Jährige das Parteibuch der SPD, trat aber vor drei Monaten aus. Weil die SPD die Interessen der ethnischen und religiösen Minderheiten in Deutschland nicht mehr vertrete. Mehr noch: Wer «Wahrheiten über die Türkei oder über ausländische Politiker» äussere, werde gemobbt und ausgeschlossen.
Im Schatten der türkischen AKP
Da solche «Wahrheiten» oft ganz auf der Linie des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan liegen, vermuten Kritiker in DAVA einen Ableger der Regierungspartei AKP. Obwohl sich die DAVA-Führungsriege dagegen verwahrt, personell und inhaltlich lässt sich eine gewisse Nähe nicht leugnen. Viele Mitglieder wurden in islamistisch-türkischen Gruppierungen sozialisiert, waren aktive AKP-Lobbyisten.
Jens Bastian vom Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) in Berlin will diese Querverbindungen jedoch nicht überbewerten: «Es handelt sich um deutsche Staatsbürger mit türkischen Wurzeln. Das gilt es zunächst auch einmal zu respektieren. Ich würde da also keinen Automatismus hineininterpretieren.»
Was die Erfolgschancen von DAVA angeht: Die türkische und muslimische Community ist heterogen. Säkulare, Aleviten oder Kurden werden dieser Bewegung kaum Stimmen geben. Doch das Reservoir an Wahlberechtigten bleibt gross, und da das EU-Parlament keine 5-Prozent-Hürde kennt, sind die Chancen für DAVA entsprechend gut.