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Neuer Kurs für die EU Syrien-Sanktionen: Kaja Kallas’ erster Test

Mehr als ein Monat ist seit dem Umsturz in Syrien vergangen. Seither fragt sich die EU, wie sie mit den neuen syrischen Machthabern umgehen soll. Noch hat sie keine Antwort gefunden. Konkret dreht sich die europäische Diskussion darum, ob die während der Zeit des Assad-Regimes verhängten Sanktionen gegen das Land aufgehoben werden sollen.

Die Überlegung: Die Lockerung der Sanktionen könnte Syrien nach Jahren des Krieges und Jahrzehnten der Assad-Diktatur wieder auf die Beine helfen. In vielen EU-Hauptstädten denkt man dabei vor allem an die Migration: Stabile Verhältnisse im Land würden auch Rückführungen von syrischen Asylsuchenden erleichtern, so die verbreitete Erwartung.

Doch wie vertrauenswürdig sind die neuen islamistischen Machthaber in Damaskus? Das versucht Europa gerade herauszufinden. Die Aussenministerinnen und Aussenminister der vier grössten EU-Staaten sind im Januar alle nach Damaskus gereist, um dort Achmed al-Scharaa, den neuen starken Mann, zu treffen.

«Ermutigende Signale» und Zweifel

Der italienische Aussenminister sprach von «ermutigenden Signalen». Aus Deutschland, Frankreich und Spanien tönt es ähnlich. Der Tenor: Die Sanktionen, die unter anderem Öl- und Gasexporte oder Finanzgeschäfte betreffen, sollen zumindest gelockert werden.

Doch ganz so einfach ist es nicht: Offiziell betrachtet die EU – wie auch die UNO – al-Scharaas HTS-Miliz noch immer als Terrororganisation. Und auch die Tatsache, dass al-Scharaa der deutschen Aussenministerin Baerbock bei ihrem Besuch in Damaskus die Hand zur Begrüssung nicht reichen wollte, sorgte in Brüssel für Irritation – und für Zweifel, ob die HTS wirklich so gemässigt ist, wie sie sich gibt. «Wir wollen keine Radikalisierung sehen», formuliert EU-Aussenbeauftragte Kaja Kallas die europäischen Erwartungen.

Einstimmigkeit nötig

Das Dilemma für die EU: Will sie den syrischen Wiederaufbau wirksam unterstützen, müsste sie die Sanktionen wohl bald aufheben – noch bevor sie die langfristigen Pläne der neuen syrischen Machthaber kennt. Ob sie bereit ist, dieses Risiko einzugehen, wird sich schon bald zeigen. Am Montag treffen sich sie EU-Aussenminister in Brüssel, um die Syrien-Sanktionen zu diskutieren. Für handfeste Entscheide – etwa eine Lockerung oder Aufhebung der Sanktionen – bräuchte es Einstimmigkeit unter den 27 Mitgliedstaaten.

Diese Einigkeit vermitteln, ist die erste grosse Aufgabe der neuen Aussenbeauftragten Kallas. Die frühere estnische Ministerpräsidentin ist bisher vor allem für ihre harte Linie gegenüber Russland bekannt. Jetzt muss sie zeigen, ob sich auch eine wirksame europäische Syrienpolitik entwerfen kann.

Andreas Reich

EU-Korrespondent

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Andreas Reich ist seit November 2022 TV-Korrespondent von SRF in Brüssel. Zuvor arbeitete der studierte Jurist als Auslandredaktor und Onlineproduzent im SRF-Newsroom in Zürich und berichtete als freier Reporter aus Südosteuropa.

Tagesschau, 19.1.2025, 19:30 Uhr

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