«Verpasste Chance»: Nach einem fünftägigen Aufenthalt in Kanada ist Papst Franziskus zurück in den Vatikan gereist. SRF-Nordamerika-Korrespondent Andrea Christen hält fest, der Papst habe nicht alle Erwartungen erfüllt. «Manche sagen, dass es eine ernstgemeinte Entschuldigung gewesen sei. Andere, darunter auch wichtige indigene Stimmen, sind aber der Meinung, die Entschuldigung sei unvollständig gewesen. Die Rede ist von einer verpassten Chance.»
Bitte um Vergebung: Nachdem 2021 und 2022 mehrere Massengräber von indigenen Kindern in der Nähe von «Residential Schools» gefunden worden waren, hat sich der Papst bei den Indigenen für die von Katholiken begangenen Übel entschuldigt und um Vergebung gebeten. Ab 1880 waren in den «Residential Schools», die von der katholischen Kirche geführt wurden, indigene Kinder untergebracht, um sie zwangsweise an die westliche Kultur anzupassen. Sie durften zum Beispiel ihre Sprache nicht sprechen und keine indigene Kleidung tragen. Viele Kinder wurden misshandelt, sexuell missbraucht, hungerten oder starben.
Bericht der kanadischen Wahrheits- und Versöhnungskommission 2015:
Mitverantwortung des Staates: Der Papst wies eine alleinige Schuld der katholischen Kirche an diesen Verbrechen zurück. «In dieses beklagenswerte, von den damaligen Regierungsbehörden geförderte System (...) waren einige örtliche katholische Einrichtungen miteinbezogen», erklärte der 85-Jährige. Seine Botschaft: Der kanadische Staat sei ebenfalls in der Verantwortung gewesen.
Konkrete Verantwortung nicht anerkannt: Murray Sinclair, ein indigener Richter, Senator und Vorsitzender der kanadischen Wahrheits- und Versöhnungskommission, sagte aber, die Institution katholische Kirche insgesamt habe die Schulen nicht nur im Auftrag der kanadischen Regierung geführt, sondern sie habe die Zerstörung der indigenen Kultur auch aktiv vorangetrieben. Sie habe die Regierung zum Teil sogar aufgefordert, die Assimilierung noch aggressiver zu verfolgen. Deshalb hält Sinclair die Entschuldigung für unvollständig.
Doktrin der Entdeckung: Zwei Frauen hatten mit einer Protestaktion während einer Messe den Papst aufgefordert, die sogenannte Doktrin der Entdeckung zu widerrufen. Die Doktrin der Entdeckung begründete ein religiös inspiriertes Kolonialisierungsbewusstsein. Mit Erlassen und Bullen (wichtige Urkunde) hat das Papsttum so im 15. Jahrhundert den Landraub an den Indigenen gerechtfertigt. Der Papst äusserte sich bei seinem Besuch in Kanada nicht dazu.
Dokumente, Artefakte und Entschädigungen: Weiter war vom katholischen Kirchenoberhaupt erwartet worden, dass Dokumente, die noch mehr Klarheit über die «Residential Schools» bringen würden, offengelegt würden. Die Kirche sollte auch Kunstgegenstände von Indigenen, die im Vatikan aufbewahrt werden, zurückgeben und sich angemessen an den Entschädigungen für Überlebende beteiligen. Doch nichts von alldem habe der Papst veranlasst, so der SRF-Korrespondent.