Würde man nicht hier und da ein Wahlplakat sehen an den Strassen Athens, man bekäme nicht mit, dass am Sonntag Parlamentswahlen stattfinden. Die Stimmung ist ruhig, das war bekanntlich nicht immer so.
Mitten auf dem Syntagma Platz steht ein Stand von beachtlicher Grösse. Er gehört der Regierungspartei Nea Dimokratia. Dort wird Athenerinnen und Athenern erklärt, wie sie in ihrem Wahlbezirk die Wahlzettel ausfüllen müssen.
Doch hier wählen nur die Alteingesessenen. Die meisten Griechinnen und Griechen fahren ohnehin in ihren Heimatort für ihre demokratische Pflicht. Im Hintergrund läuft eine Wahlrede des Amtsinhabers Kyriakos Mitsotakis.
Vom «Bad Boy» zum Musterschüler
Reden halten gehört nicht zu seinen Stärken. Dafür hat er sich als krisenresistenter Ministerpräsident erwiesen. Er hat die letzten vier Jahre die Geschicke des Landes geleitet und es wirtschaftlich vorangebracht.
Mitsotakis hat die Unternehmenssteuern gesenkt, den Mindestlohn und die Renten angehoben und durch das grösste Digitalisierungsprogramm des Landes den Staat effizienter gemacht.
Das Vertrauen in die griechische Wirtschaft ist zurück: Im vergangenen Jahr verzeichnete das Land einen Rekord an ausländischen Investitionen: nämlich sieben Milliaden Euro. Das ist so viel wie nie in den letzten 20 Jahren.
Gerechtigkeit – überall
Neben dem Wahlstand auf dem Syntagma-Platz versammeln sich abends Hunderte von Menschen. Sie tragen weisse, grüne und vor allem rote Fahnen, die alle von einem Syriza-Logo geschmückt werden. Sie schwenken die Fahnen heftiger, als Oppositionsführer Alexis Tsipras seine Rede hält.
Reden halten gehört – im Vergleich zu Mitsotakis – zu Tsipras Stärken. Er spricht davon, den Wohlstand des Landes besser unter dem Volk zu verteilen. Er verspricht den Mindestlohn zu erhöhen, die 13. Rente wieder einzuführen und im Energiesektor eine maximale Gewinnrate von fünf Prozent einzuführen.
Vor allem aber spricht er von Gerechtigkeit. Gerechtigkeit für die Todesopfer des Zugunglücks von Tempi, das 57 Menschenleben gekostet hat. Tsipras macht dafür Mitsotakis persönlich verantwortlich.
Gerechtigkeit auch für die sogenannte Abhöraffäre. Unter der Regierung Mitsotakis wurden Dutzende von Politikerinnen, Journalisten und Geschäftsleute vom Geheimdienst abgehört.
Was Mitsotakis, dem die Behörde direkt unterstellt ist, davon wusste, ist Teil von Untersuchungen. Tsipras fordert nichts weniger als den Wechsel – oder radikaler formuliert: den Umsturz.
Die schwierige Regierungsbildung
Laut Umfragen liegt Kyriakos Mitsotakis mit seiner Nea Dimokratia sieben Prozent vorne. Er dürfte am Sonntag also die Wahl gewinnen.
Früher hätte die Siegerpartei auch allein die Regierung gestellt. Denn der Wahlsieger hat 50 Bonusmandate erhalten, um einfacher die absolute Mehrheit im Parlament zu erreichen. Die Regierung Tsipras hat dies abgeschafft. Somit dürfte am Sonntag keine Partei das Soll von 151 Sitzen erreichen.
Arithmetisch reicht eine Koalition nur zwischen Nea Dimokratia und der sozialistischen Pasok-Kinal. Doch da deren Chef, Nikos Androulakis, zu den Zielpersonen im Abhörskandal unter der Nea Dimokratia gehörte – wenn auch ohne Erfolg – gilt das als so gut wie ausgeschlossen.
Derzeit deutet also alles auf einen zweiten Wahlgang im Juli hin. Der Stand auf dem Syntagma-Platz und die Wahlplakate dürften also vorerst bleiben.