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Wahlen Grossbritannien: Zuwanderung wird hitzig diskutiert
Aus Tagesschau vom 03.07.2024.
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Parlamentswahl im Königreich In Grossbritannien wird mit Migrationsängsten Wahlkampf betrieben

Weniger als zehn Prozent der Zuwanderung in Grossbritannien geschieht illegal. 90 Prozent ist gewollt, um Wirtschaft und Sozialstaat am Laufen zu halten. Und doch dominiert die illegale Zuwanderung den Wahlkampf.

Er ist ein Meister der Inszenierung: Nigel Farage von der rechtsnationalen Protestpartei Reform UK. Sein zentrales Wahlkampfthema ist die Zuwanderung. Farage weiss, wie er daraus am meisten politisches Kapital schlagen kann: Er fährt mit Medienschaffenden auf den Ärmelkanal und schürt vor laufenden Kameras die Angst, Grossbritannien habe die Kontrolle über die Zuwanderung verloren. «Es kommen immer mehr mit dem Boot von Frankreich», so Farage. «Es sind meist junge Männer, die bei uns arbeiten oder von unserem Sozialdienst profitieren wollen. Und es hat auch Terroristen darunter.»

Nigel Farage gibt auch gleich sein Patentrezept zum Besten, wie die illegalen Überfahrten zu stoppen wären: «Wir greifen sie auf dem Meer auf und bringen sie gleich nach Frankreich zurück, statt sie bei uns in Dover an Land zu bringen und zu registrieren.»

Die illegale und die legale Zuwanderung in Zahlen

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Seit Anfang des Jahres 2024 sind gegen 14‘000 Menschen auf Booten über den Ärmelkanal nach Grossbritannien gelangt. Das sind so viele wie nie zuvor in der ersten Jahreshälfte. 2023 kamen knapp 30‘000 Menschen illegal ins Land. Mit rund 45‘000 illegalen Einreisen ist 2022 das Rekordjahr, seit die Zahlen 2018 zum ersten Mal erhoben wurden. Seither sind zusammengerechnet 120‘000 Menschen unerlaubt auf die britischen Inseln gelangt.

Netto-Zuwanderung von rund 700'000 Menschen

So hoch die Zahlen der illegalen Zuwanderung auch sind: Sie machen nur einen Bruchteil der gesamten Zuwanderung aus. Gemäss Zahlen des Nationalen Amtes für Statistik wanderten 2023 1.22 Millionen Menschen nach Grossbritannien ein. 532‘000 wanderten aus. Bleibt eine Netto-Zuwanderung von gegen 700‘000 Menschen. Das ist annähernd so hoch wie im Rekordjahr 2022.

41 Prozent der legal eingewanderten Menschen kamen mit einem Arbeitsvisum ins Land, 37 Prozent zum Studieren, 5 Prozent als Familiennachzug und 5 Prozent mit einem humanitären Visum. Asylsuchende machten 8 Prozent aus.

Ausländische Arbeitskräfte ins Land holen hauptsächlich die Landwirtschaft, der Gesundheits- und Pflegesektor sowie die Informatik- und die Bankenbranche.

Klingt einfach, würde allerdings gegen internationales Seerecht sowie gegen britisch-französische Vereinbarungen verstossen. Frankreich und Grossbritannien haben 2023 bekräftigt, gegen 500 zusätzliche Polizeimitglieder an die französischen Strände am Ärmelkanal zu schicken, um dort Migrantinnen und Migranten daran zu hindern, überzusetzen. Der britische Premierminister Rishi Sunak hat Frankreich dafür 500 Millionen Pfund (knapp 575 Millionen Franken) als Hilfe zugesagt – für die nächsten fünf Jahre.

Ausschaffung nach Ruanda soll abschrecken

Auch Sunak spielt im Wahlkampf die Angst-Karte: «Sobald Labour das Sagen hat, werden alle illegalen Migrantinnen und Migranten freigelassen. Hütet euch davor, Labour das Sagen über unsere Landesgrenzen zu geben.»

Sunak meint damit: Labour würde die Hunderten von Bootsflüchtlingen freilassen, die in den letzten Wochen vorübergehend festgesetzt worden sind, damit sie so bald wie möglich nach Ruanda abgeschoben werden. Labour hat sich seit Beginn gegen das Ruanda-Programm ausgesprochen, da es viel koste und nichts bringe.

Menschen am nebligen Strand, teilweise in Rettungswesten.
Legende: Eine Gruppe kurdischer Migrantinnen und Migranten aus dem Iran und dem Irak nach einem misslungenen Versuch, mit einem Boot das Vereinigte Königreich zu erreichen (Ambleteuse, 19. Mai 2024). Keystone/AP Photo/Bernat Armangue

«Wenn Ihr Abschreckungsprogramm doch so erfolgreich ist, Herr Premierminister, wie erklären Sie dann, dass seit Anfang des Jahres so viele Asylsuchende wie noch nie per Boot einreisen?», fragt Labour-Chef Keir Starmer in der letzten grossen TV-Debatte vor den Wahlen ironisch zurück.

Neues Abwehrkommando und bessere Zusammenarbeit mit der EU

Labour-Chef Keir Starmer möchte die illegale Zuwanderung mit einer neuen, schlagkräftigeren Kommandostruktur in den Griff bekommen. Mehrere Hundert Fachpersonen – auch aus Geheimdienst- und Terrorabwehreinheiten – sollen den Schlepperbanden das Handwerk legen: «Als leitender Staatsanwalt habe ich geholfen, länderübergreifend agierende kriminelle Netzwerke zu zerschlagen. Dasselbe werden wir mit den Schlepperbanden tun.»

Brexit wollte die Zuwanderung eindämmen, das Gegenteil geschah

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«Take back control» war das Schlagwort der Austrittsbefürworterinnen und -befürworter Grossbritanniens aus der EU (Brexit). In der Folge der internationalen Finanzkrise nach 2008 schlitterte das Vereinigte Königreich in eine Rezession und erholte sich nur langsam davon. Das Wachstum zu Beginn der 2010er-Jahre blieb verglichen mit anderen G7-Staaten tief. Die starke, von der Wirtschaft gewollte Zuwanderung wurde zum Politikum.

Die rechts-nationale, von Nigel Farage mitgegründete UKIP-Partei verlangte eine Beschränkung der Zuwanderung, wenn nötig durch ein Ende des freien Personen- und Warenverkehrs. Bei den Wahlen 2015 legte die UKIP-Partei stark zu. Und der damalige konservative Premierminister David Cameron entschloss sich, eine Abstimmung über die Zugehörigkeit zur EU anzusetzen.

Die Beschränkung der Zuwanderung und eine eigenständige Kontrolle der Grenzen waren die stärksten Argumente, am 23. Juni 2016 für den Brexit zu stimmen.

Die Grenzen des Vereinigten Königreichs werden jetzt zwar wieder stärker kontrolliert. Doch die Zuwanderung ist seit Inkrafttreten des Brexit-Abkommens am 1. Januar 2021 nicht zurückgegangen – sondern deutlich gestiegen. Grund dafür ist unter anderem ein steigender Fachkräftemangel.

Keir Starmer möchte auch Rückübernahmeabkommen mit zahlreichen Ländern abschliessen, darunter auch mit EU-Ländern – reisen doch die Bootsflüchtlinge durch sichere EU-Länder an den Ärmelkanal.

Gewinnt Starmer die Wahlen, wird er schon in zwei Wochen die erste Gelegenheit haben, bei zahlreichen europäischen Staats- und Regierungschefs dafür zu weibeln – beim Gipfeltreffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft, das nördlich von London stattfinden wird. Ein Rückübernahmeabkommen als Willkommensgeschenk für den neuen Premierminister wird die EU-Spitze kaum im Gepäck haben.

Audio
Sunak vs. Starmer: Wer macht das Rennen?
aus Echo der Zeit vom 02.07.2024. Bild: REUTERS/Phil Noble
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Tagesschau, 03.07.2024, 19:30 Uhr;kesm

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