Nach der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen bleibt ein Scherbenhaufen: Der FDP-Politiker Thomas Kemmerich, der am Mittwoch mit den Stimmen von AfD, CDU und FDP zum neuen Regierungschef gewählt wurde, kündigte 24 Stunden später seinen Rücktritt an. Zudem will seine Fraktion einen Antrag auf Neuwahlen stellen.
SRF-Deutschland Korrespondentin Bettina Ramseier sagt, dass die Reaktionen für die Involvierten wohl heftiger waren, als erwartet.
SRF News: Ist der Druck zu gross geworden? Konnte Thomas Kemmerich nicht anders, als zurücktreten?
Bettina Ramseier: Auf jeden Fall, das war hier ein mittleres Erdbeben. Eine regelrechte Explosion im politischen Berlin aber auch in den sozialen Medien. Zu glauben, dieses Manöver würde gar keine Reaktionen auslösen, das wäre wohl naiv gewesen. Aber mit dieser heftigen Reaktion hat Thomas Kemmerich offensichtlich nicht gerechnet. Und das war dann wohl auch eine Nummer zu gross für ihn.
Kemmerich wurde mit Hilfe von AfD-Stimmen demokratisch gewählt, nun gibt er auf massiven Druck hin das Amt wieder auf. Ist das demokratiepolitisch nicht problematisch?
Genauso gut könnte man es demokratiepolitisch problematisch finden, dass hier jemand gewählt wurde, der eine sehr kleine Partei vertritt – die kleinste im Thüringer Parlament. Die es letztes Jahr nur mit Ach und Krach überhaupt ins Parlament geschafft hat. Und auf der anderen Seite wurde die Linke ausgebootet. Sie war die klare Wahlsiegerin.
Es geht hier um mehr als nur Regionalpolitik.
Bodo Ramelow von der Linken, der bisherige Ministerpräsident, ist ein sehr beliebter Politiker. 60 Prozent der Thüringer halten ihn für einen sehr fähigen Mann. Er hat die Schulden reduziert, er hat die Wirtschaft angekurbelt, die Arbeitslosigkeit gesenkt. Und jetzt wurde ein Mann gewählt, der zuvor kaum bekannt war, der ohne Regierungsprogramm angetreten ist. Das entspricht wohl auch nicht dem Wählerwillen. Aber klar, die Reaktionen sind überaus heftig – und das zeigt: Es geht hier um mehr als nur Regionalpolitik.
Die AfD ausgrenzen, obwohl sie kontinuierlich zulegt – kann dieses Konzept der etablierten Parteien langfristig anhalten?
Das ist eine schwierige Frage. Da gilt es zwei Dinge zu bedenken. Zum einen den historischen Kontext. In Deutschland ist das Verantwortungsbewusstsein sehr gross, was die Geschichte betrifft. Es gibt eine grosse Sensibilität gegenüber allem, was nationalistische oder autoritäre Züge trägt.
Andererseits ist die AfD keine Partei der Masse. Sie bewegt sich immer etwa auf dem gleichen Stand wie bei der Bundestagswahl 2017. Ihr fehlt das Personal – zum Teil fehlen ihr auch die Inhalte, um tatsächlich Regierungsverantwortung übernehmen zu können.
Es geht der AfD vor allem darum, ein Stück weit Chaos zu stiften.
Meiner Meinung nach geht es der AfD vor allem darum, die etablierten ehemaligen Volksparteien empfindlich zu stören, die bisherige Ordnung ins Wanken zu bringen, ein Stück weit Chaos zu stiften. Und das ist ihr auf jeden Fall gelungen.
Die Fragen stellte Cornelia Boesch.
Die schnellsten Rücktritte in der Politik
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Bild 1 von 6. Thomas Kemmerich. Noch ist er im Amt, doch für wie lange? Auf alle Fälle vergingen zwischen der höchst umstrittenen Wahl zum thüringer Ministerpräsidenten und seiner Ankündigung, das Amt wieder zur Verfügung stellen zu wollen, gerade mal 24 Stunden. Bildquelle: Keystone.
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Bild 2 von 6. Philomena Bijlhout – wenige Stunden. Philomena Bijlhout wurde am 22. Juli 2002 Staatssekretärin im Ministerium für Arbeit und Soziales der Niederlande. Wenige Stunden später trat sie bereits wieder zurück. Ein Fernsehsender hatte berichtet, dass sie zu einer Zeit Mitglied einer Militär-Miliz in Surinam gewesen war, als politische Morde verübt wurden. Bildquelle: Keystone.
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Bild 3 von 6. Dimitris Kammenos – 12 Stunden. Dimitris Kammenos wurde für die zweite Regierung von Alexis Tsipras am 23. Septemer 2015 zum Transportminister ernannt. Der Grieche war zuvor jedoch durch antisemitische und homophobe Äusserungen aufgefallen und seine Ernennung löste einen Sturm der Entrüstung aus. Nach nur 12 Stunden erklärte Kammenos seinen Rücktritt. Bildquelle: RSI.
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Bild 4 von 6. Andrew Yang – 6 Tage im Amt. Ende Juli 2013 wurde Andrew Yang im taiwanesischen Kabinett von Premierminister Jiang Yi-huah zum Verteidigungsminister ernannt. Er kündigte Menschenrechts-Verbesserungen im Militär an. Dazu kam es nicht – Yang trat bereits am 6. August 2013 zurück. Dies, nachdem er zugegeben hatte, dass Teile eines seiner Bücher nicht von ihm stammten. Bildquelle: Screenshot: Taipei Times.
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Bild 5 von 6. Aldo Brancher – 17 Tage im Amt. Brancher war seit 2001 im italienischen Parlament und seit 2008 Staatssekretär, als er im Juni 2010 als Vertrauter von Silvio Berlusconi zum Föderalismus-Minister ernannt wurde. Ein paar Tage später wurde er zudem zum Minister für Dezentralisierung ernannt. Nur ein paar weitere Tage später trat Aldo Brancher wegen eines Bestechungsskandals zurück. Bildquelle: Keystone.
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Bild 6 von 6. Franz Josef Jung – 33 Tage. Der bisherige deutsche Verteidigungsminister wurde am 28. Oktober 2009 zum Arbeitsminister ernannt. Nach einem Monat im Amt belastete ihn ein Zeitungsartikel zu einem von der Bundeswehr angeforderten Luftangriff im afghanischen Kundus. Jung übernahm die Verantwortung am 27. November 2009 und wurde drei Tage später aus der Bundesregierung entlassen. Bildquelle: Keystone.