Der Tod des Afroamerikaners George Floyd in den USA rückt in Australien die missliche Lage der Ureinwohner ins Zentrum. 434 Aborigines sind in den letzten drei Jahrzehnten in Haft ums Leben gekommen, ohne das Beamte zur Verantwortung gezogen worden wären, wie Australien-Mitarbeiter Urs Wälterlin berichtet.
SRF News: Warum sind die Aborigines besonders von Polizeigewalt betroffen?
Urs Wälterlin: Die Hintergründe sind komplex. Allem zugrunde liegen aber mehr als 200 Jahre der Entrechtung, der Gewalt und vor allem des Rassismus. Es ist der Rassismus einzelner Beamter und Behörden, aber auch der Bevölkerung und der Medien.
Welches sind die weiteren Gründe?
Es sind die Lebensumstände, die Armut und die Isolation der Aborigines. Ebenso die endemische Gewalt, die in einzelnen Aborigines-Gemeinden herrscht. Das sind zwangsläufig Konfliktherde. Beispielsweise verwahrloste Kinder, die in der Nacht zu Vandalen werden und stehlen. Die Beamten verfolgen strafbare Handlungen, wenden aber bei Aborigines und anderen nicht-weissen Bevölkerungsgruppen oft andere Massstäbe an als bei europäisch-stämmigen Australiern. Nachlässigkeit und Desinteresse spielen oft auch eine Rolle bei Todesfällen in Haft.
Warum hat sich in diesem Bereich so lange nichts getan?
Lange fehlten die Beweise. Tote reden nicht. Heute sprechen Überwachungskameras für sie. Von den Polizisten und Gefängnisbeamten kann man in der Regel wenig Hilfe erwarten. Sie halten mehrheitlich zusammen. Selbst wer mit guten Absichten in ein Polizeikorps eintritt, wird schnell überholt von der generellen Meinung, alle Aborigines seien faule und betrunkene Nichtsnutze. Das zeigten mir Gespräche mit Polizeibeamten.
In der Polizei ist die Meinung weit verbreitet, alle Aborigines seien faule und betrunkene Nichtsnutze.
Dieses Bild wird auch von den Boulevard-Medien immer wieder gezeigt, obwohl es überhaupt nicht stimmt. Es gibt Tausende von erfolgreichen Berufsleuten mit Aboriginal-Hintergrund. Nur hat die Polizei mit denen nur sehr wenig zu tun.
Was macht die Regierung von Premier Scott Morrison gegen dieses Problem?
Ebenso wenig wie die Vorgängerregierungen. Der Tod von Aborigines in Polizeigewahrsam ist für die Politik und die Gesellschaft eine Schande von historischem Ausmass. Eine Untersuchungskommission hatte Vorschläge zur besseren medizinischen Versorgung von Inhaftierten gemacht und zur besseren Ausbildung der Polizei. Davon wurde kaum etwas realisiert. In vielen Bereichen hat sich die Lage gar verschlimmert.
Ich habe grösste Zweifel, dass die Regierung Morrison etwas ändern wird. Es fehlt der politische Wille. Mehr Schutz für Aborigines bringt keine Wählerstimmen in den mehrheitlich weissen Vororten von Sydney und Melbourne.
Mehr Schutz für Aborigines bringt keine Wählerstimmen in den mehrheitlich weissen Vororten von Sydney und Melbourne.
Jetzt gehen Tausende mit den Ureinwohnern auf die Strasse. Wird das etwas ändern?
Die Demonstrationen und die Parallelen zu den USA haben im Volk zu einem erhöhten Bewusstsein geführt. Ich zweifle aber daran, dass es zu einer nachhaltigen Verbesserung kommen wird. Man muss sich immer die Geschichte vor Augen halten: Die Ureinwohner wurden seit jeher entrechtet, systematisch verfolgt und ermordet. Viele der heutigen Probleme, die es in einigen, aber lange nicht in allen Aboriginal-Gemeinden gibt, sind eine direkte Folge des Versuchs, diese Menschen auszurotten. Es ist ein versuchter Völkermord, der zum Glück nicht gelungen ist.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.