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Proteste in Serbien «Wir können nicht mehr in einer Gesellschaft voller Angst leben»

Ein Unglück in Novi Sad hat Serbiens Jugend aufgerüttelt: Für heute hatten Sie zum landesweiten «Generalstreik» aufgerufen.

Seit Wochen kommt es in Serbien zu Demonstrationen gegen die Regierung. Die Protestbewegung entzündete sich an einem Unglück: Anfang November stürzte in der zweitgrössten Stadt Novi Sad das Vordach des Bahnhofs ein – 15 Menschen starben.

Angeführt werden die Proteste von Studentinnen und Studenten. Mittlerweile haben sich aber auch andere Teile der Gesellschaft angeschlossen.

Um 11:52 Uhr wurden in ganz Serbien 15 Schweigeminuten abgehalten – eine für jedes Todesopfer des Bahnhofsunglücks in Novi Sad. Um genau diese Uhrzeit ist Anfang November – ebenfalls an einem Freitag – stürzte das Vordach ein. Die Empörung darüber hält bis heute an.

In Novi Sad und in der Hauptstadt Belgrad, aber auch in Kleinstädten wie Novi Pazar oder Kraljevo gingen die Menschen zu Zehntausenden auf die Strasse. «Obwohl in den letzten zwölf Jahren unter Präsident Aleksandar Vucic vieles passiert ist, war das Unglück von Novi Sad für viele der berühmte Tropfen zu viel», sagt die junge Studentin Ana.

Lückenlose Aufklärung gefordert

Die 21-Jährige studiert an der Kunstuniversität in Belgrad. Wobei sie schon länger nicht mehr am Unterricht teilgenommen hat. Seit Wochen boykottieren Studierende im ganzen Land die Lehrveranstaltungen. Täglich finden Protestaktionen statt.

Sie fordern unter anderem die lückenlose Aufklärung des Unglücks von Novi Sad, für das sie der Regierung und der grassierenden Korruption im Land die Schuld geben. Zudem sollen die Verantwortlichen strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden.

Alles soll stoppen!
Autor: Ana Serbische Studentin

Auch Lehrer und Professorinnen sind schon länger Teil des Protestes. Und Schülerinnen und Schüler bestreiken den Unterricht. Mit einem Protesttag, der als Generalstreik angekündigt wurde, wollte man heute das ganze Land zum Stillstand bringen. «Alles soll stoppen!», sagt Ana. «Wir können nicht mehr in einer Gesellschaft voller Angst und Gewalt leben.»

Solidarität mit den Studierenden

Wenn auch nicht ein Generalstreik, so haben sich doch breitere Teile der Gesellschaft angeschlossen. Auch viele Geschäfte, Kultureinrichtungen oder Restaurants haben aus Solidarität den Betrieb eingestellt. Anderswo wurde die Arbeit für die 15 Schweigeminuten unterbrochen.

Proteste in Belgrad
Legende: «Gerechtigkeit für die 15»: Wie hier in Belgrad strömten Zehntausende Menschen auf die Strasse, um ihrem Unmut über das «System Vucic» Luft zu machen. Keystone/EPA/ANDREJ CUKIC

Dabei sei die Protestbewegung bewusst nicht mit Parteien oder Organisationen verbunden, sagt die junge Studentin Ana: «Wir sprechen nie zu einer Person oder Partei. Wir wollen einfach, dass unser Land so funktioniert, wie es soll.»

Die Opposition solidarisiert sich aber mit den Studierenden. Heute blockierten Abgeordnete für eine gewisse Zeit die Autobahn zwischen Belgrad und Novi Sad. Der Protest richte sich in erster Linie an die Institutionen im Land, die oftmals ihre Arbeit nicht unabhängig machten, sagt Ana. Das belege die mangelnde Aufarbeitung von Novi Sad.

Protest gegen Vucics Allmacht

Präsident Vucic und seine Serbische Fortschrittspartei kontrollieren nach 12 Jahren an der Macht sämtliche Ebenen von Staat und Gesellschaft. Die Medien, die lokalen Behörden – die öffentlichen Unternehmen.

Wenn die Studenten und Studentinnen also Institutionen fordern, die ihre Arbeit unabhängig von der regierenden Partei erledigen, dann richtet sich der Protest gegen das Herz des Regierungssystems von Aleksandar Vucic und das Klientelsystem, das er aufgebaut hat.

Echo der Zeit, 24.01.2025, 18 Uhr

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