Von den knapp 300'000 gemeldeten Corona-Infizierten sind in Russland bislang offiziell nur rund 2800 Personen an Covid-19 verstorben. Die Zahlen seien zweifellos viel höher, sagt Russland-Korrespondent David Nauer.
SRF News: Russland hat offiziell eine sechsmal kleinere Corona-Sterblichkeit als die Schweiz. Wie ist das möglich?
David Nauer: Das ist nicht möglich. Es gibt denn auch erhebliche Zweifel. So weiss man etwa, dass in Moskau im April 20 Prozent mehr Menschen gestorben sind als sonst in diesem Monat. Die meisten dieser zusätzlichen Toten sind nicht als Corona-Opfer registriert worden. Mehrere Medien haben deshalb die Behörden beschuldigt zu manipulieren.
Wie reagiert der Kreml auf diese Kritik?
Sehr vehement. Politiker und auch das russische Aussenministerium haben vor allem ausländische Medien ins Visier genommen, darunter die «New York Times». So wurde mit der Ausweisung von Korrespondenten gedroht, wenn ein kritischer Bericht nicht zurückgezogen wird.
Wie erklären die Behörden die tiefen Zahlen?
Sie verweisen darauf, dass anders gezählt werde als im Westen. So werde unterschieden zwischen Menschen, die an – respektive mit – Covid-19 gestorben seien. In Russland werden alle Menschen obduziert, die an einer Infektionskrankheit sterben oder die eine Infektionskrankheit hatten, als sie starben. Momentan werden auch alle Toten mit Corona-Verdacht obduziert. Oft schreiben die Ärzte dann von Herzversagen oder Problemen mit anderen Organen. Das Virus taucht als Sterbeursache nicht auf. Das sei und ist ganz offenbar der Grund, warum die offizielle Zahl der Corona-Toten so tief ist.
Das Virus taucht als Sterbeursache oft nicht auf.
Nutzen die Behörden den Spielraum, um die Zahlen zu drücken?
Diesen Eindruck bekommt man. Die russische Zählweise ermöglicht Manipulationen. Laut Recherchen des russischen Online-Journals «Meduza» werden vor allem in den Provinzen zum Teil systematisch andere Todesursachen angegeben. Die örtlichen Behörden wollten im Kreml ein möglichst gutes Bild abgeben. Entsprechend würden örtliche Pathologen gedrängt, andere Todesursachen anzugeben. Eine Region im hohen Norden etwa meldet so rund 1700 Erkrankte, aber nur drei Tote.
Wie sieht die Realität aus?
Die Infektions- und Todesraten sind zweifellos viel höher. Es gibt auch einzelne Beamte, die das eingestehen. Moskaus Bürgermeister etwa hat geschätzt, dass in der Hauptstadt mindestens 300'000 Menschen infiziert seien. Also mehr als doppelt so viele wie in der offiziellen Statistik.
Die Infektions- und Todesraten sind zweifellos viel höher. Es gibt einzelne Beamte, die das eingestehen.
Noch krasser sind Informationen aus der Provinz Dagestan. Dort sprach ein Beamter kürzlich von rund 600 Menschen, die in den letzten Wochen an einer akuten Lungenentzündung gestorben seien. Von diesen sind offiziell nur 29 Menschen dem Virus erlegen. Die Epidemie ist zumindest in Teilen Russlands ein ziemlicher Blindflug. Man weiss eigentlich nicht, wie schlimm die Lage wirklich ist.
Die Epidemie ist zumindest in Teilen Russlands ein ziemlicher Blindflug. Man weiss nicht, wie schlimm die Lage wirklich ist.
Bringt die Pandemie das russische System an seine Grenzen?
Das russische Gesundheitssystem ist noch nicht zusammengebrochen. Aber es hat Sand im Getriebe. Putin hat in den vergangenen Jahrzehnten viel Energie darauf verwendet, um eine sogenannte Vertikale der Macht zu errichten. Alles geht vom Kreml aus. Nun kommt der Super-Zentralismus an seine Grenzen. Ein Beispiel: Putin persönlich hat für Ärztinnen, Ärzte und Pflegepersonal Bonuszahlungen angeordnet, die mit Covid-19-Erkrankten arbeiten. Das vom Kreml an die Provinzen überwiesene Geld wird zum Teil nicht weitergegeben, worauf Putin wütend reagierte.
Das Gespräch führte Roger Aebli.