Wir schaffen das doch nicht – das scheint zehn Jahre nach der Flüchtlingskrise der Tenor in Europa zu sein. Obwohl die Zahl der Asylgesuche wieder sinkt, verschärfen viele Staaten ihre Migrationspolitik. Wieso findet Europa seit einem Jahrzehnt keinen gemeinsamen Umgang mit Geflüchteten? Migrationsexpertin Sophie Meiners ordnet ein.
SRF News: Der Bundestag hat am Mittwoch für Verschärfungen in der Migrationspolitik gestimmt – Asylsuchende sollen künftig direkt an der Grenze abgewiesen werden können. Was bedeutet der Beschluss für Deutschland?
Sophie Meiners: Der Entscheid hat noch keine legislative Wirkung. Solche Beschlüsse zeigen aber, dass schärfere Asylmassnahmen im Bundestag mehrheitsfähig sind – auch in Zusammenarbeit mit der AfD. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die Union am Freitag ihren Migrationsgesetzesentwurf durchbringt. Dieser beinhaltet unter anderem die Abschaffung des Familiennachzugs für subsidiär schutzberechtigte Ausländer.
Sollte Deutschland die Rückweisungen an der Grenze durchsetzen, ist davon auszugehen, dass auch die benachbarten Länder ihre Massnahmen verschärfen.
Deutschland ist der grösste EU-Mitgliedstaat. Könnten die Verschärfungen einen Dominoeffekt auslösen?
Deutschland war mit grundlegenden Asylrechtsänderungen bislang eher zurückhaltend. Mit dem Programm von CDU/CSU wird nun ein klares Signal gesendet. Das dürfte auch auf andere Länder einen Effekt haben. Sollte Deutschland beispielsweise die Rückweisungen an der Grenze durchsetzen, ist davon auszugehen, dass auch die benachbarten Länder Österreich und Polen ihre Massnahmen verschärfen.
Man hat den Eindruck, dass überall in Europa schärfere Asylmassnahmen ergriffen werden.
Dieser Eindruck täuscht nicht. Zwei Beispiele: Polens Regierungschef Donald Tusk kündigte im Oktober 2024 an, illegale Migration begrenzen zu wollen und das Recht auf Asyl in Teilen des Landes vorübergehend aussetzen. Zudem bringt Italien nach zweimaliger Niederlage vor Gericht wieder Migranten nach Albanien. Dass Asylverfahren nicht mehr auf italienischem Boden durchgeführt werden, hat politische Wirkkraft. Es stellt infrage, inwieweit das territoriale Asylrecht in Europa fortbestehen soll.
Die EU plant mit einer Asylreform Verschärfungen. Ein Blick auf die Statistiken zeigt, dass die Zahl der Asylgesuche sinkt. Wie geht das zusammen?
Die Verhandlungen und der Beschluss der EU-Asylreform standen unter dem Eindruck steigender Asylgesuche, nur die Umsetzung fällt in eine Zeit sinkender Asylzahlen. Zudem ist Migrationspolitik in Deutschland nach den Angriffen in Solingen, Magdeburg und Aschaffenburg zum wichtigsten Wahlkampfthema geworden. Den schärferen Asylregeln liegt ein Gefühl von Kontrollverlust zugrunde: Man möchte irreguläre Migration eindämmen, weil manche das Gefühl haben, der Sache nicht mehr Herr zu werden.
Wieso tut sich Europa mit der Migrationspolitik so schwer?
Europa setzt auf ein Migrationssystem, das in der Praxis nicht gut funktioniert. Jeder Staat fühlt sich benachteiligt und mit der hohen Zahl an Geflüchteten allein gelassen.
Wie könnten Lösungsansätze aussehen?
Entscheidend ist ein Solidaritätsgedanke – also das Bekenntnis, dass Migration eine gemeinsame Aufgabe ist. Ausserdem ist die Aussendimension der EU-Migrationspolitik wichtig: Zum Beispiel hat die EU durch einen Migrationsdeal mit Tunesien erreicht, dass 2024 60 Prozent weniger Menschen über die zentrale Mittelmeerroute in die EU kamen als 2023. Diese Abkommen haben aber einen Preis: Die EU unterstützt damit autoritäre Regimes, in denen Migrantenrechte oft nicht geschützt werden.
Das Gespräch führte Laura Sibold.