Es ist ein Szenario, wovor Beobachter seit Monaten gewarnt haben: IS-Anhänger fliehen aus syrischen Haftanstalten – zum Beispiel aus einem Camp in der Nähe der syrischen Stadt Kamischli. Fünf IS-Anhänger konnten dort am Freitag fliehen, nachdem das Gefängnis von türkischen Truppen beschossen worden sei, wie die Syrischen Demokratischen Streitkräfte (SDF) mitteilen.
In kurdischen geführten Haftanstalten sind mehrere IS-Verdächtige aus der Schweiz interniert: Männer und Frauen sowie deren Kinder. Mit einer der Schweizerinnen steht SRF seit mehreren Monaten in Kontakt. 2018 hatte sie der Sendung «10vor10» ein Interview gegeben. Die Frau aus Lausanne und ihre inzwischen zwei Jahre alte Tochter sind seit anfangs 2018 in einem Camp im äussersten Nordosten Syrien interniert.
«Nicht mehr viele Wachen»
Nach Beginn der türkischen Militäroffensive hat «10vor10» von der Mutter nun mehrere Textnachrichten erhalten. Sie berichtet, der Beschuss sei in ihrem Camp deutlich zu hören. «Die Kurden sind in Panik», schreibt die IS-verdächtige Schweizerin.
Offenbar werden die kurdischen Soldatinnen – für das Camp inhaftierter Frauen und Kinder sind weibliche Truppenteile der kurdischen Miliz zuständig – nun vermehrt an der Front gebraucht. «Es sind nicht mehr viele Wachen, welche das Camp bewachen.»
Eine Journalistin des Tessiner Fernsehen RSI hat im Sommer den Nordosten Syriens bereist und mehrere Schweizer Gefangene interviewt. «Die türkische Offensive gefährdet die Sicherheit der Gefangenen und erhöht das Risiko von Flucht oder Angriffen aus den Terrorzellen des IS. Das kurdische Militär kann die Sicherheit in den Lagern nicht mehr garantieren».
So kam es bereits im Frühjahr zu einem Aufstand in einem Männergefängnis bei der Stadt Al Malikyiah, dort war zu jenem Zeitpunkt bereits ein Schweizer inhaftiert. Es handelt sich dabei um den Ehemann der im Camp internierten Frau aus Lausanne. Bereits vor Beginn der türkischen Offensive war die Lage in den Gefängnissen und Camps also instabil, auch wenn US-Truppen die kurdische Miliz in der Sicherung der Haftanstalten offenbar unterstützt haben.
Auf Dauer sei es kein haltbarer Zustand, tausende ehemalige IS-Anhänger mit ihren Familien, dazu noch ohne juristischen Prozess, im Nordosten Syriens zu belassen, meint der belgische Terrorismusforscher Thomas Renard vom Egmont Institut in Brüssel. Die westlichen Staaten hätten aber bei der Rückführung ihrer Landsleute auf Zeit gespielt: «Trotz unsicherer Lage gab es noch die Illusion, dass man noch Zeit habe. Aber wir haben keine Zeit, wir müssen für diese Gefangenen eine Lösung finden».
Auch die Schweiz scheint auf Zeit gespielt zu haben. So entschied der Bundesrat im März, die inhaftierten Landsleute nicht zurückzuschaffen. Ausnahmen sah er allenfalls bei Kindern vor. Effektiv zurückgebracht wurde allerdings noch keines der Schweizer Kinder.
Bundesrat will erneut beraten
Es hat sich offenbar als nicht umsetzbar erwiesen, die Kinder alleine aus den Camps zu holen, denn die Kurden weigern sich, Kinder den Müttern zu entreissen, was nach Einschätzung einiger Rechtsexperten wohl auch Kinderrechtskonventionen widersprechen würde.
Wie Recherchen von «10vor10» ergaben, steht das Thema kommenden Mittwoch auf der Traktandenliste des Sicherheitsausschusses des Bundesrats, dem Verteidigungsministerin, Justizministerin und Aussenminister angehören.