Die Proteste in Iran dauern seit Wochen an. Auch heute ist es anlässlich des Jubiläums des «blutigen Novembers» im Jahr 2019, bei dem die Menschen aufgrund hoher Benzinpreise auf die Strasse gingen, wieder zu Strassenschlachten in Teheran und anderen Städten gekommen.
Der Justizapparat reagiert dabei äusserst repressiv, bereits wurde in mehreren Fällen die Todesstrafe verhängt. Gerüchte von Massenhinrichtungen machen die Runde. Droht nun eine weitere Eskalation? Der Experte Dieter Karg von Amnesty International ordnet ein.
SRF News: Welche Rolle nimmt die Todesstrafe in der jüngeren Geschichte Irans ein?
Dieter Karg: Es gibt sie seit den Zeiten der islamischen Revolution. Sie wird in hohem Masse angewendet. Die Häufung von politisch motivierten Urteilen geschieht dabei in Wellen. Besonders schlimm war es 1988, als zwischen 4000 und 4500 Anhänger der oppositionellen Volksmujahedin hingerichtet wurden.
Wie häufig wird sie ausgesprochen? Und gegen wen?
Weltweit steht Iran an zweiter Stelle. Pro Jahr kommt es zu 250 bis 300 Hinrichtungen. Diese Zahl hat zuletzt zugenommen. Letztes Jahr waren es 314, und im ersten Halbjahr dieses Jahres wurden bereits 251 Urteile ausgesprochen.
Typische Delikte sind Mord und bewaffneter Raub oder Vergewaltigung. International wird die Regierung dafür kritisiert, dass auch «kleinere» Delikte mit der Todesstrafe belegt werden, darunter Ehebruch oder Drogenhandel. 2015 kam es allerdings zu einer Reform. Seither ist die Anzahl der Verurteilungen wegen Drogendelikte zurückgegangen. Eine weitere grausame Besonderheit: In Iran werden auch Personen zum Tode verurteilt, die zum Tatzeitpunkt noch Jugendliche waren.
Inwiefern hat sich die Praxis angesichts der jüngsten Proteste geändert?
Politisch motivierte Urteile, etwa gegen Mitglieder bewaffneter Milizen-Gruppen – sei es der Kurden oder Belutschen – hat es schon immer gegeben. Vor kurzem hat das iranische Parlament mit dem Straftatbestand «Kampf gegen Gott» härtere Strafen für Protestierende gefordert.
Mit einer Gesamtbeurteilung muss man aber wohl noch zuwarten. 2009, bei der letzten grossen Protestwelle, gab es insgesamt acht Todesurteile. Wie viele davon jedoch vollstreckt wurden, ist nicht bekannt.
Wieso setzt die Regierung in Teheran auf dieses Mittel?
Die Todesstrafe soll als Abschreckung dienen und ein Damokles-Schwert sein, das über politischen Aktivisten schwebt. Der effektive Nutzen scheint gering. Protestierende im Iran riskieren den Tod ja ohnehin, wenn sie auf die Strasse gehen. Sie können durch die Sicherheitskräfte erschossen oder zu Tode gefoltert werden.
Die iranische Regierung will mit den Urteilen ein Exempel statuieren.
In der Praxis ist es meist so, dass der Sicherheitsapparat nach kritischen Ereignissen wie grossen Protesten, aber etwa auch bei christlichen Gottesdiensten, massenhaft Teilnehmende verhaftet. Zu Urteilen kommt es dann aber nur in wenigen Fällen. Diese fallen dafür umso drakonischer aus. Die Regierung will damit ein Exempel statuieren.
Wie geht der Justizapparat vor?
Vielfach lässt die Polizei Leute nach einer Festnahme einfach verschwinden. Sie werden von der Aussenwelt abgeschnitten, in vielen Fällen gefoltert und zu Geständnissen gedrängt. Erst dann bekommen sie Hilfe von staatlich genehmigten Anwälten. Von den Angeklagten gewünschte Juristen erhalten in vielen Fällen keine rechtzeitige Dokumenteneinsicht, dementsprechend häufig kommt es zu Verurteilungen. Dass in der aktuellen Protestwelle schon Todesurteile aufgrund der Teilnahme an Demonstrationen verhängt wurden, zeigt, dass es sich dabei um Schnellprozesse handelt.
Wird die Lage nun weiter eskalieren?
Es könnte sein, dass sie weiter eskaliert. Ich gehe aber eher davon aus, dass Teheran versuchen wird, es nicht zum Äusserten kommen zu lassen.
Eine genaue Prognose ist jedoch schwierig. In den vergangenen Jahren ist es – bereits vor der aktuellen Welle – vermehrt zu Protesten gekommen. Dass die Menschen jetzt auch explizit gegen islamische Sittengebote protestieren, könnte die Machthaber verunsichern. Auf der anderen Seite: Der interne und internationale Druck war Teheran bislang immer ziemlich egal.
Das Gespräch führte Patrick McEvily