Wir sitzen gebannt vor dem Fernseher und sehen: Auf der gefällten Assad-Statue sitzen jubelnde Menschen, sie lassen sich durch die Strassen ziehen auf dem goldenen Klumpen Assad-Altmetall, angebunden an einen Pickup, es ist die ultimative Sieges-Geste. Das Regime in Damaskus ist gestürzt.
In der bedeutenden Umayyaden-Moschee hält der Rebellenführer und Ex-Al-Kaida-Mann al-Golani eine Siegesrede, Syrerinnen und Syrer stürmen den Präsidentenpalast. Auf Videos sieht man die Menschen in Assads Privaträumen. Sie tragen Kühlschränke aus der Villa und samtbezogene Stühle, machen Selfies auf Assads Sofa.
Assad, der Feind des eigenen Volkes
Derweil hat sich der gestürzte Diktator nach Moskau abgesetzt – er habe aus «humanitären Gründen» Asyl in Russland erhalten, heisst es aus dem Kreml. Assad also ist weg. Warum gerade heute?
Für die Rebellen war es der perfekte Zeitpunkt für den Durchmarsch. Nach dem fürchterlichen Angriff auf Israel am 7. Oktober wurde die Hisbollah von Israel fast pulverisiert, in mehreren dramatischen Aktionen. In die Luft gesprengt, buchstäblich. Die Hisbollah, gestützt durch den Iran, verlor innert Wochen ihre Bedeutung, ihre Kraft. Sie war eine der Lebensversicherungen Assads – solange die Hisbollah in Syrien operieren konnte, war dem Diktator die Gunst des Irans gewiss.
Ein Pfeiler also brach weg für den in England ausgebildeten Augenarzt Assad, der sein eigenes Volk sehenden Auges untergehen lassen wollte, bekämpfte, tyrannisierte, tötete.
Moskau und Teheran ohne Kraft, Assad zu stützen
Dann Russland. Putins Truppen, die den Diktator Assad stützten und beschützten, hatten nicht mehr die Kraft, die Rebellen zurückzudrängen. Putins Krieg gegen die Ukraine bindet offenbar doch mehr Kräfte, als die Welt bisher dachte. Putin fehlten die Mittel, Assads Regime zu verteidigen.
All das veränderte die Lage innert Wochen – und die Rebellen nutzten genau diesen Moment: ein geschwächter Putin, ein Iran ohne weitere Interessen, ohne Plan und vor allem ohne Ziel. Innert weniger Tage rückten die Rebellen vor, eroberten Dorf um Dorf, Stadt um Stadt. Und jetzt eben Damaskus. Erst wer die Hauptstadt erobert, ist der Sieger. Das war schon immer so, bei den Römern, im Mittelalter.
Was macht al-Golani mit seiner Macht?
Jetzt kommt es auf Rebellenführer al-Golani an. In einigen Gebieten herrschte er schon länger – man attestierte ihm immerhin eine gewisse Toleranz. Mädchen durften in seinen Gebieten zur Schule gehen, an den Unis Vorlesungen besuchen. Er praktizierte quasi einen Islamismus Light. Doch wie wird er sich verhalten? Was macht er mit seiner Macht?
In den westlichen Regierungszentralen schieben die Geheimdienstler Nachtschichten. Will man mit al-Golani zusammenarbeiten? Wen soll man jetzt überhaupt anrufen in Syrien? Die Angst vor dem Vakuum sitzt allen im Nacken. Wird Syrien ein zweites Afghanistan? Krieg, Gewalt, Terror ohne Ende? Oder kann man al-Golani vertrauen?
Und was passiert mit den Flüchtlingen? Kehren die Menschen aus Europa und vor allem aus der Türkei nun in ihr Heimatland zurück? Oder gibt es im Gegenteil einen neuen gigantischen Flüchtlingsstrom aus Syrien?
Und wer könnte eigentlich eingreifen auf dieser Welt? Europa ist geschwächt, Deutschland und Frankreich sind ohne funktionierende Regierungen. Und was tut der künftige US-Präsident Trump? Wir wissen es nicht, niemand weiss es. Die einzige Gewissheit: Assad ist weg. Auf seinem bronzenen Körper rasseln Menschen durch die Stadt. Die Sorge um das Morgen ist spürbar, überall.