Seit 1968 hat nie mehr ein amtierender US-Präsident auf eine Kandidatur für eine zweite Amtszeit verzichtet. Joe Bidens Rückzug aus dem US-Präsidentschaftswahlkampf 100 Tage vor der Wahl ist ein in dieser Zuspitzung nie dagewesener historischer Vorgang. Die möglicherweise nachfolgende demokratische Kandidatin, Vizepräsidentin Kamala Harris, stehe nun vor einer sehr schwierigen Aufgabe, sagt der USA-Experte Georg Schild.
SRF News: Hat es einen Rückzug so kurz vor dem Wahltag schon einmal gegeben?
Georg Schild: Nein. In der Geschichte der USA haben bislang drei amtierende Präsidenten mehr oder weniger freiwillig auf eine Kandidatur verzichtet: George Washington, der erste Präsident überhaupt, sagte nach zwei Amtszeiten, es sei genug – damals gab es noch keine Amtszeitbeschränkung. James K. Polk verzichtete in den 1840er-Jahren freiwillig auf eine zweite Amtszeit.
Doch in der Vergangenheit wurde nur selten ein amtierender Vizepräsident zum nächsten US-Präsidenten gewählt.
Am besten vergleichbar mit Biden ist wohl Lyndon B. Johnson, der 1968 vor dem Hintergrund der Studentenproteste gegen den Vietnamkrieg nicht mehr für eine zweite Amtszeit antrat. Johnson kündigte seinen Verzicht allerdings schon im März des Wahljahres 1968 an, also vor den parteiinternen Vorwahlen der Demokraten.
Vizepräsidentin Kamala Harris gilt jetzt als aussichtsreichste Kandidaten für die Demokraten. Wie ist dies historisch einzuordnen?
Man würde annehmen, dass sie als Vizepräsidentin quasi die natürliche Nachfolgerin Bidens wäre. Doch in der Vergangenheit wurde nur relativ selten ein amtierender Vizepräsident zum nächsten US-Präsidenten gewählt. Das schaffte etwa George Bush senior 1988 als Nachfolger von Ronald Reagan. Doch schon bei Al Gore als Nachfolger von Bill Clinton klappte es 2000 nicht.
Joe Biden macht es Kamala Harris nicht gerade einfach.
Im aktuellen Fall ist Vizepräsidentin Harris nun erst einmal von Joe Biden als seine gewünschte Nachfolgerin benannt worden. Das heisst aber noch lange nicht, dass das die Demokratische Partei ebenso sieht. Man wird spätestens am Parteitag vom 19. bis 22. August sehen, ob sie geschlossen hinter Harris steht. Dabei muss man festhalten: Biden macht es Harris nicht gerade einfach. Sie muss sich jetzt raschestmöglich die Unterstützung ihrer eigenen Partei sichern und dann auch noch Wahlkampf machen. Harris steht vor einer sehr schwierigen Situation.
Wie kann ihr dabei ihre Rolle als amtierende Vizepräsidentin helfen?
Es wird ihr nur bedingt helfen. Denn sie wird für alles in Haftung genommen, was man bisher Biden angelastet hat: die hohe Inflation oder die Probleme bei der Immigration. Das alles werden die Republikaner vorbringen. Auch gibt es noch etliche offene Fragen zu Bidens Verzicht, etwa, wieso er dafür nicht vor die Medien getreten ist. Das alles werden die Republikaner nun weidlich ausschlachten.
Biden wird jetzt zur «Lame Duck» – wird er tatsächlich handlungsunfähig?
Seit 1952 ist die Zahl der Amtszeiten für die US-Präsidentschaft auf zwei begrenzt – die Phase der «Lame Duck» ist also quasi in der US-Verfassung angelegt. Sie kann für einen Präsidenten allerdings auch als Chance genutzt werden: Wenn er weiss, dass er nicht wiedergewählt werden wird, kann er viel freier agieren.
Biden hätte Harris zur ersten Präsidentin der USA machen können – etwas für die Geschichtsbücher.
Bei Biden kommt jedoch der gesundheitliche Aspekt hinzu. Es fragt sich, ob er nicht besser auch gleich vom Präsidentenamt zurückgetreten wäre. Denn einerseits könnten ihm die Republikaner jetzt nicht vorwerfen, zu krank für die Präsidentschaft zu sein. Ausserdem hätte Biden so Kamala Harris zur ersten Präsidentin der USA machen können – etwas für die Geschichtsbücher.
Das Gespräch führte Romana Kayser.