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Wiederaufbau in Libanon Nach der Explosion kehrt in Beirut das Leben zurück

Auf den Staat können Beiruts Bewohner nicht zählen: Hilfswerke kümmern sich um den Wiederaufbau – und spenden Hoffnung.

Das Karantina-Quartier von Beirut liegt direkt neben dem Hafen. Im 19. Jahrhundert mussten ankommende Schiffsreisende hier in Quarantäne, daher der Name. Am Ende der Strasse, die dem Hafen am nächsten liegt, steht ein abbruchreifes Haus. Das Glaskästchen, in der eine kleine Heiligenstatue in Schieflage steht, ist zerbrochen. Daneben liegt ein einzelner Turnschuh im Staub.

Fast alle sind hier durch die Wucht der Explosion vom 4. August verletzt, viele getötet worden. Doch nun kehrt Leben zurück ins verwüstete Quartier. Der Bauingenieur Fady schaut stolz seinen Arbeitern zu, die gleich an drei Gebäuden letzte Reparaturen vornehmen. Ein mehrstöckiges Gebäude, in dem bis vor zwei Monaten noch jede Wohnung unbewohnbar war, ist fast fertig – und sogar schon frisch gestrichen.

«Ich bin glücklich, weil wir den Leuten helfen, ihre Häuser, ihr Quartier wiederaufzubauen», sagt der Bauingenieur. Im Karantina-Quartier lebten vor der Explosion Hausbesitzer, Mieterinnen, Arme, Wohlhabendere, Muslime und Christinnen. Bald können die ersten wieder zurückkehren. «Wir brauchen noch 15 bis 20 Tage. Schneller geht's nicht: Wir mussten die Häuser von Grund auf neu bauen», erzählt Fady. In liebevoller Kleinarbeit wird alles neu gemacht, von Fenstern bis zu Bodenplatten, möglichst so wie vor der Explosion.

Der Hausbesitzer Mark schaut zu, wie das 100-jährige Haus seines Urgrossvaters wiederaufersteht. Für ihn ein emotionaler Moment. Zwei seiner Tanten lebten in diesem Haus, eine wurde schwer verletzt, die andere getötet. «Durch die Wucht der Explosion wurde sie von der Türe getroffen, brach einen Arm, ein Bein, ihr Kopf blutete, und auf dem Weg ins Spital verstarb sie.» Mark wischt sich die Tränen weg. Der Wiederaufbau weckt Erinnerungen an jenen schrecklichen Tag. «Mit der Zeit vergisst man, aber mit Reden kommt alles zurück.»

Kaum jemand könne hier sein Haus oder seine Wohnung mit eigenen Mitteln wiederaufbauen, sagt Ilda Nahas. Die Libanesin ist Gründerin und Leiterin des lokalen Hilfswerks Rashet Kheir – auf Deutsch «Hoffnungsschimmer» –, das mithilft, den am schwersten beschädigten Teil des Quartiers wiederaufzubauen. «Am Anfang boten wir vor allem moralische Unterstützung für die traumatisierten Menschen», erzählt Nahas.

Für den Wiederaufbau hat sich Rashet Kheir mit einem anderen Hilfswerk zusammengetan. Die meisten Spenden kommen von Exil-Libanesinnen und Exil-Libanesen. Nahas' Hilfswerk bezieht alle mit ein – auch Menschen mit Behinderungen. «Viele Menschen haben seit der Explosion Gehörschäden, aber auch sie sind am Wiederaufbau beteiligt», sagt die Hilfswerksleiterin.

Die Kirche ist neu aufgebaut, Kunststudierende haben eine Mauer bemalt, und ein paar Bauarbeiter sind daran, einen Weihnachtsbaum aufzustellen. Ilda Nahas kennt sie alle. Zwei Monate lang war sie jeden Tag auf der Grossbaustelle.

Trotz ihrer Freude über das Wiederaufleben des Karantina-Quartiers: Ilda Nahas weiss, dass ihr Land wirtschaftlich am Abgrund steht, viele ihrer Freundinnen ziehen deswegen weg, weil sie in Libanon keine Zukunft mehr sehen. «‹Das ist verlorene Liebesmühe!›, sagen mir meine Freunde. Aber ich glaube, dass Libanon es wert ist, hier zu bleiben. Ich hoffe, ich täusche mich nicht.»

Rendez-vous, 14.12.2020, 12.30 Uhr

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