Frankreichs Nationalversammlung ist so zersplittert wie noch nie seit Beginn der 5. Republik vor über 60 Jahren. Keiner der drei grossen Blöcke verfügt über mehr als ein Drittel der Sitze im Parlament. Dabei ist das linke Wahlbündnis die stärkste Kraft.
Kaum lagen am Wahlabend die ersten Hochrechnungen vor, stellte sich Jean-Luc Mélenchon, der Chef der linkspopulistischen Bewegung La France Insoumise vor die Fernsehkameras und stellt den Anspruch auf die Regierungsbildung. Das linke Wahlbündnis UG werde sein «vollständiges Programm» durchsetzen, sagte Mélenchon.
Mélenchon kündigte das an, was er zuvor jahrelang Präsident Emmanuel Macron vorgeworfen hatte: Dass dieser auch ohne Volksmehrheit im Rücken sein politisches Programm kompromisslos durchsetzen wolle.
Aufruf zur Zusammenarbeit
Als Antwort an Mélenchon erscheint einige Tage später in der links-liberalen Tageszeitung «Le Monde» ein Artikel, unterzeichnet von 70 Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur und Politik. Sie fordern das Linksbündnis dazu auf, den anderen «republikanisch gesinnten» Parteien die Hand zu reichen und das Gespräch zu suchen.
Gemeint sind damit alle Parteien, ausser das extrem rechte Rassemblement National. Dass Parteien gemeinsam nach einem breiten Konsens suchen, wäre allerdings neu in Frankreichs Politik.
Zu den Autoren des Aufrufs in «Le Monde» gehört Loïc Blondiaux, Politologieprofessor an der Universität Sorbonne. Er bezweifelt, dass ein solcher Kulturwandel rasch kommen wird. Frankreichs politische Landschaft werde seit über 60 Jahren von einem Majorz-Wahlrecht geprägt.
Dieses habe der Regierung in der Nationalversammlung in der Regel eine solide absolute Mehrheit verschafft – und damit grossen Spielraum, so Blondiaux.
Drei gleich starke Blöcke
Nach der aktuellen Wahl vom 7. Juli gibt es nun erstmals drei starke Blöcke im Parlament. Und wenn diese keinen Kompromiss finden, bleibt Frankreich für ein Jahr politisch weitgehend blockiert. Denn Präsident Macron könnte die Nationalversammlung frühestens nächsten Sommer erneut auflösen.
Deshalb sollte man den Moment nutzen und über eine Reform des Wahlrechts nachdenken, sagt Blondiaux. «Frankreich könnte zu einem Proporz-System wechseln. Dies würde die politische Basis einer Regierung erweitern und die Politiker dazu bringen, Kompromisse zu entwickeln.»
Parteien weiterhin im Wahlkampfmodus
Das Volk sehe eine solche Entwicklung laut Umfragen positiv, sagt der Politologe. Die meisten Politikerinnen und Politiker dagegen seien weniger begeistert. Sie hätten bereits die Präsidentenwahl von 2027 im Blick, verbunden mit der Hoffnung, dass sie in der anschliessenden Parlamentswahl eine absolute Mehrheit erringen könnten.
Dies bestätigen die Parteien auch durch ihr Verhalten. Die Blöcke links und rechts sind weiterhin im Wahlkampfmodus und zeigen bislang keinerlei Interesse an Verhandlungen. Und innerhalb der bisherigen Regierungskoalition treten Zerfallserscheinungen auf.
Der Positionsbezug für die Zeit nach Emmanuel Macron hat bereits begonnen.