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Fehlende Kompromisskultur erschwert Regierungsbildung
Aus Echo der Zeit vom 18.07.2024. Bild: Keystone
abspielen. Laufzeit 5 Minuten 16 Sekunden.

Zersplittertes Parlament Politische Kompromisse kennt man in Paris kaum

Drei grosse Lager stehen sich im Parlament unversöhnlich gegenüber – und politische Kompromisse sind für alle drei ein Fremdwort.

Frankreichs Nationalversammlung ist so zersplittert wie noch nie seit Beginn der 5. Republik vor über 60 Jahren. Keiner der drei grossen Blöcke verfügt über mehr als ein Drittel der Sitze im Parlament. Dabei ist das linke Wahlbündnis die stärkste Kraft.

Kaum lagen am Wahlabend die ersten Hochrechnungen vor, stellte sich Jean-Luc Mélenchon, der Chef der linkspopulistischen Bewegung La France Insoumise vor die Fernsehkameras und stellt den Anspruch auf die Regierungsbildung. Das linke Wahlbündnis UG werde sein «vollständiges Programm» durchsetzen, sagte Mélenchon.

Macronistin Braun-Pivet – Präsidentin der Nationalversammlung

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Legende: X @yaelbraunpivet

Die Macronistin Yaël Braun-Pivet (Renaissance), die bisherige Präsidentin der französischen Nationalversammlung, ist wiedergewählt worden. Sie erhielt im dritten und letzten Wahlgang 220 Stimmen. Der Wahl stellten sich auch der Kommunist André Chassaigne (207 Stimmen), der von der linken Koalition (NFP) der Neuen Volksfront unterstützt wurde. Sébastien Chenu vom Rassemblement national (RN) erhielt 141 Stimmen. Die Nationalversammlung ist erstmals seit der Wahl vom 7. Juli mit den neu gewählten 577 Mitgliedern zusammengetreten.

«Wir müssen neue Lösungen mit neuen Methoden finden», sagte Yaël Braun-Pivet nach der Ausmarchung. «Wir haben keine Wahl, wir müssen miteinander auskommen, wir müssen zusammenarbeiten, wir müssen in der Lage sein, nach Kompromissen zu suchen.»

Die 53-jährige Yaël Braun-Pivet ist seit 2022 Präsidentin in der Assemblée nationale. Sie erhielt vor allem Unterstützung von Präsident Macrons zentristischen Verbündeten und von einigen konservativen Abgeordneten, die verhindern wollten, dass ihr linker Konkurrent, der Kommunist Chassaigne, neuer Vorsitzender wird.

Mélenchon kündigte das an, was er zuvor jahrelang Präsident Emmanuel Macron vorgeworfen hatte: Dass dieser auch ohne Volksmehrheit im Rücken sein politisches Programm kompromisslos durchsetzen wolle.

Aufruf zur Zusammenarbeit

Als Antwort an Mélenchon erscheint einige Tage später in der links-liberalen Tageszeitung «Le Monde» ein Artikel, unterzeichnet von 70 Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur und Politik. Sie fordern das Linksbündnis dazu auf, den anderen «republikanisch gesinnten» Parteien die Hand zu reichen und das Gespräch zu suchen.

Volles Auditorium in einem prunkvollen Saal.
Legende: Erstmals seit der Wahl vom 7. Juli trat heute in Paris die Naitonalversammlung mit den neu gewählten 577 Mitgliedern zusammen. Imago/Abd Rabbo Ammar

Gemeint sind damit alle Parteien, ausser das extrem rechte Rassemblement National. Dass Parteien gemeinsam nach einem breiten Konsens suchen, wäre allerdings neu in Frankreichs Politik.

Zu den Autoren des Aufrufs in «Le Monde» gehört Loïc Blondiaux, Politologieprofessor an der Universität Sorbonne. Er bezweifelt, dass ein solcher Kulturwandel rasch kommen wird. Frankreichs politische Landschaft werde seit über 60 Jahren von einem Majorz-Wahlrecht geprägt.

Ein Drittel der Stimmen, 60 Prozent der Sitze

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Die Parlamentswahl vom Juni 2017 nach der Wahl von Emmanuel Macron zum Präsidenten zeigt die Auswirkungen des französischen Majorz-Wahlsystems exemplarisch: Im ersten Wahlgang erreichte Macrons Bewegung «La République en Marche» einen Stimmenanteil von 32 Prozent. Doch nach der zweiten Runde verfügte sie mit 350 Sitzen in der Nationalversammlung über einen Anteil von rund 60 Prozent der Sitze.

Damit werde der Wille der Wählerinnen und Wähler nicht abgebildet, sagt Politologe Blondiaux. Folge: «Die Regierung überschätzt ihre eigene politische Basis. Wenn sie nur rund ein Drittel der Wählerschaft vertritt und trotzdem allein regieren kann, schafft dies ein Legitimationsdefizit.» Gleichzeitig wachse bei der Opposition die Frustration.

Dieses habe der Regierung in der Nationalversammlung in der Regel eine solide absolute Mehrheit verschafft – und damit grossen Spielraum, so Blondiaux.

Drei gleich starke Blöcke

Nach der aktuellen Wahl vom 7. Juli gibt es nun erstmals drei starke Blöcke im Parlament. Und wenn diese keinen Kompromiss finden, bleibt Frankreich für ein Jahr politisch weitgehend blockiert. Denn Präsident Macron könnte die Nationalversammlung frühestens nächsten Sommer erneut auflösen.

Deshalb sollte man den Moment nutzen und über eine Reform des Wahlrechts nachdenken, sagt Blondiaux. «Frankreich könnte zu einem Proporz-System wechseln. Dies würde die politische Basis einer Regierung erweitern und die Politiker dazu bringen, Kompromisse zu entwickeln.»

Parteien weiterhin im Wahlkampfmodus

Das Volk sehe eine solche Entwicklung laut Umfragen positiv, sagt der Politologe. Die meisten Politikerinnen und Politiker dagegen seien weniger begeistert. Sie hätten bereits die Präsidentenwahl von 2027 im Blick, verbunden mit der Hoffnung, dass sie in der anschliessenden Parlamentswahl eine absolute Mehrheit erringen könnten.

Dies bestätigen die Parteien auch durch ihr Verhalten. Die Blöcke links und rechts sind weiterhin im Wahlkampfmodus und zeigen bislang keinerlei Interesse an Verhandlungen. Und innerhalb der bisherigen Regierungskoalition treten Zerfallserscheinungen auf.

Der Positionsbezug für die Zeit nach Emmanuel Macron hat bereits begonnen.

Echo der Zeit, 18.7.2024, 18:00 Uhr

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