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Wenn der Berg ruft – und es in der Tragödie endet
Aus News Plus vom 08.07.2024. Bild: Keystone/Arno Balzarini
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40'000 Unfälle pro Jahr Riskantes Hobby: Warum ist Wandern so gefährlich?

Die Kehrseite des Wanderbooms: Die Zahl der Unfälle ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Das liegt am Massentourismus, der sich in kritisches Gelände vorarbeitet – und am eigenen Ego.

Schon als Knirpse erklimmen wir luftige Höhen – und spätestens mit 30 hängt die erste atmungsaktive Wanderjacke im Kleiderschrank: Wir Schweizer sind ein Volk von Wanderern. Sogar die Gämsen nicken uns freundlich zu, wenn wir trittsicher an ihnen vorbei kraxeln.

So weit das Klischee. Die Realität sieht anders aus: Jedes Jahr gibt es rund 40'000 Unfälle beim Bergsport und Wandern in der Schweiz. Im Schnitt sterben jährlich 53 Menschen bei unserem Volkssport Nummer 1.

Drei Viertel der Todesfälle betreffen Männer

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Legende: Keystone/Anthony Anex (Symbolbild)

Egal ob alt oder jung: Laut der Beratungsstelle für Unfallverhütung (bfu) verunfallen in den Bergen alle Altersklassen. Beim Bergwandern sind es vor allem die Seniorinnen und Senioren. Beim Bergsteigen sind es häufig Personen im erwerbstätigen Alter.

Die meisten Unfälle passieren durch Ausrutschen, Stolpern oder Stürzen. Dementsprechend sind vor allem Unterschenkel und Sprunggelenke von Verletzungen betroffen. Todesfälle gibt es mehrheitlich infolge von Abstürzen. Mehr als drei Viertel der Todesopfer sind Männer.

Noch in den 2000er-Jahren gab es jährlich «nur» rund 17'700 Unfälle. Die Zunahme ist auch dem Wanderboom geschuldet, der in den letzten Jahren in der Schweiz ausgebrochen ist. Und: Die Unfallstatistik «wächst» mit dem Bevölkerungswachstum mit. Wo mehr Menschen leben, wird mehr gewandert – naturgemäss gibt es damit mehr Misstritte und Abstürze.

Aber: Die Zahl der Unfälle habe im letzten Jahrzehnt überproportional zugenommen, erklärt Mara Zenhäusern von der Beratungsstelle für Unfallverhütung (bfu). Über die Gründe lasse sich nur spekulieren. «Vermutlich sind mehr unerfahrene Leute unterwegs, die keine spezifischen Kenntnisse der Berggefahren haben und auch mehr Risiken eingehen.»

Plakat am Bahnhof mahnt zur richtigen Vorbereitung auf Bergewanderungen.
Legende: Die Beratungsstelle für Unfallverhütung ruft an neuralgischen Punkten dazu auf, sich gewissenhaft auf Wandertouren vorzubereiten. Allzu oft verhallt der Appell. Beratungsstelle für Unverhütung/sda

Bei vielen Unfällen spiele zudem Selbstüberschätzung und mangelnde Aufmerksamkeit eine Rolle. Ebenso wie die falsche Einschätzung der Wetter- und Geländeverhältnisse und schlechte Ausrüstung.

Und welche Rolle spielt das Ego? Antworten darauf hat Bernhard Streicher. Der ehemalige Professor für Sozial- und Persönlichkeitspsychologie hat sich auf die Risikoforschung spezialisiert. Heute ist er selbstständig und beschäftigt sich vor allem mit Risiken im Bergsport.

So und nicht anders

Diese Risiken werden laut dem Psychologen oft zu wenig wahrgenommen. Im Vordergrund steht die Freude, in der freien Natur zu sein und sein Tagesziel erreichen zu wollen. Die Gefahr rückt in den Hintergrund.

Die jüngsten Unfälle in den Schweizer Bergen

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Legende: Das Lagginhorn in einer Archivaufnahme. Keystone/Jean-Christophe Bott

Wie gefährlich es in den Bergen sein kann, illustrieren einige Polizeimeldungen der letzten Wochen:

  • Auf der «Haslerrippe» zwischen dem Aletschhorn und dem Dreieckhorn im Fieschertal im Wallis haben Rettungskräfte am Dienstag zwei tote Bergsteiger aufgefunden. Bei den Opfern handelt es sich um zwei Schweizer im Alter von 35 und 44 Jahren. Die Untersuchung der Unglücksumstände läuft.
  • Am 10. Juli kam es beim Abstieg vom Lagginhorn im Wallis zur Tragödie. Zwei Deutsche Personen stürzten Hunderte Meter in die Tiefe. Für eine kam jede Hilfe zu spät.
  • Am 9. Juli hat sich ein 57-jähriger Schweizer bei einem Sturz in die Tiefe am Pointe du Midi im Wallis tödliche Verletzungen zugezogen. Der Mann war mit seiner Partnerin unterwegs. Auf einer Höhe von 2430 Metern entschied er sich, alleine in Richtung des Gipfels aufzusteigen.
  • Im Val de Bagnes, ebenfalls im Wallis, musste in der Vorwoche eine 26-jährige Chinesin von Bergführern gerettet werden. Sie hatte um 21 Uhr bei widrigen Wetterbedingungen einen Notruf abgesetzt. Sie kam mit dem Schrecken davon.
  • Zeitgleich verirrte sich eine 77-jährige Amerikanerin in der Region – sie konnte erst am anderen Morgen gefunden werden. Bei der Suche wurde ein Super-Puma-Helikopter der Armee mit Wärmebildkamera eingesetzt. Die Frau zog sich keine lebensbedrohlichen Verletzungen zu.
  • Ende Juni stürzte am Silvrettahorn bei Klosters GR ein 69-jähriger Alpinist ab und konnte nur noch tot geborgen werden. Tags zuvor erlitt ein weiterer 75-jähriger Berggänger im Bündner Berninagebiet das gleiche Schicksal.
  • Für Schlagzeilen sorgte am 23. Juni ein tragisches Unglück bei den Giessbachfällen im Berner Oberland: Ein zwei Jahre alter Bub stürzte in die Wassermassen, sein Vater, ein saudischer Arzt, versuchte ihn zu retten. Beide kamen ums Leben.

«Es ist aber nicht so, dass die Leute ins Gebirge gehen und sich denken: ‹Heute mache ich etwas wirklich Unvorsichtiges und Dummes›», relativiert Streicher. Stattdessen gebe es einen psychologischen Effekt, der fatale Folgen haben kann: Wenn wir uns für etwas entschieden haben, nehmen wir verstärkt Informationen wahr, die für diese Entscheidung sprechen. Informationen, die dagegen sprechen, blenden wir aus.

Mut zur Selbstkritik

Der Rat des Psychologen: Flexibel bleiben und die Route den Bedingungen anpassen. «Es geht darum, die eigene Entscheidung immer wieder kritisch zu hinterfragen.» Heisst: Nicht einfach stur weiterlaufen, obwohl man von weitem die Gewitterwolken sieht oder sich die Tour als anstrengender entpuppt als angenommen.

Wanderer blicken aufs Matterhorn
Legende: Umkehren ist keine Option: So werden gerne einmal Warn- und Verbotstafeln ignoriert, weil man sich nicht von seiner geplanten Route abbringen lassen will. Oder die Wettervorhersage wird etwas gar optimistisch interpretiert. Keystone/Arno Balzarini (Symbolbild)

Auch eine andere Entwicklung hat das Wandern gefährlicher gemacht: Die klassischen Bergmetropolen sind heute komfortabel zu erreichen, die Infrastruktur hat viele natürliche Widerstände verschwinden lassen. «Dadurch kommen Leute, die schlecht ausgerüstet sind und keine Erfahrung haben, extrem schnell in kritisches Gelände», sagt Streicher.

Touristen fotografieren sich vor dem auf dem Gornergrat, oberhalb von Zermatt.
Legende: In Sneakern zur Berghütte aufzubrechen, ist definitiv keine gute Idee. Letztlich sind aber lange nicht alle Unfälle selbstverschuldet: Bei einer Lawine oder einem Felssturz kann man auch einfach zur falschen Zeit am falschen Ort sein. Keystone/Christian Beutler (Symbolbild)

Das Hochgebirge ist mit dem Massentourismus zugänglicher geworden. Doch es verzeiht noch immer keine Fehler. Gerade bei Menschen, die sich in einem Vergnügungspark wähnen.

Streicher schliesst: «In den letzten Jahrzehnten hat sich die Vorstellung verfestigt, dass jeder alles machen kann. Was weniger vermittelt wird, sind die Gefahren, die damit einhergehen.»

SRF 4 News, 08.07.2024, 17:15 Uhr ; 

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