Schon als Knirpse erklimmen wir luftige Höhen – und spätestens mit 30 hängt die erste atmungsaktive Wanderjacke im Kleiderschrank: Wir Schweizerinnen und Schweizer sind ein Volk von Wandernden. Sogar die Gämsen nicken uns freundlich zu, wenn wir trittsicher an ihnen vorbei kraxeln.
So weit das Klischee. Die Realität sieht anders aus: Jedes Jahr gibt es rund 40'000 Unfälle beim Bergsport und Wandern in der Schweiz. Im Schnitt sterben jährlich 53 Menschen bei unserem Volkssport Nummer 1.
Noch in den 2000er-Jahren gab es jährlich «nur» rund 17'700 Unfälle. Die Zunahme ist auch dem Wanderboom geschuldet, der in den letzten Jahren in der Schweiz ausgebrochen ist. Und: Die Unfallstatistik «wächst» mit dem Bevölkerungswachstum mit. Wo mehr Menschen leben, wird mehr gewandert – naturgemäss gibt es damit mehr Misstritte und Abstürze.
Aber: Die Zahl der Unfälle habe im letzten Jahrzehnt überproportional zugenommen, erklärt Mara Zenhäusern von der Beratungsstelle für Unfallverhütung (bfu). Über die Gründe lasse sich nur spekulieren. «Vermutlich sind mehr unerfahrene Leute unterwegs, die keine spezifischen Kenntnisse der Berggefahren haben und auch mehr Risiken eingehen.»
Bei vielen Unfällen spiele zudem Selbstüberschätzung und mangelnde Aufmerksamkeit eine Rolle. Ebenso wie die falsche Einschätzung der Wetter- und Geländeverhältnisse und schlechte Ausrüstung.
Und welche Rolle spielt das Ego? Antworten darauf hat Bernhard Streicher. Der ehemalige Professor für Sozial- und Persönlichkeitspsychologie hat sich auf die Risikoforschung spezialisiert. Heute ist er selbstständig und beschäftigt sich vor allem mit Risiken im Bergsport.
So und nicht anders
Diese Risiken werden laut dem Psychologen oft zu wenig wahrgenommen. Im Vordergrund steht die Freude, in der freien Natur zu sein und sein Tagesziel erreichen zu wollen. Die Gefahr rückt in den Hintergrund.
«Es ist aber nicht so, dass die Leute ins Gebirge gehen und sich denken: ‹Heute mache ich etwas wirklich Unvorsichtiges und Dummes›», relativiert Streicher. Stattdessen gebe es einen psychologischen Effekt, der fatale Folgen haben kann: Wenn wir uns für etwas entschieden haben, nehmen wir verstärkt Informationen wahr, die für diese Entscheidung sprechen. Informationen, die dagegen sprechen, blenden wir aus.
Mut zur Selbstkritik
Der Rat des Psychologen: Flexibel bleiben und die Route den Bedingungen anpassen. «Es geht darum, die eigene Entscheidung immer wieder kritisch zu hinterfragen.» Heisst: Nicht einfach stur weiterlaufen, obwohl man von weitem die Gewitterwolken sieht oder sich die Tour als anstrengender entpuppt als angenommen.
Auch eine andere Entwicklung hat das Wandern gefährlicher gemacht: Die klassischen Bergmetropolen sind heute komfortabel zu erreichen, die Infrastruktur hat viele natürliche Widerstände verschwinden lassen. «Dadurch kommen Leute, die schlecht ausgerüstet sind und keine Erfahrung haben, extrem schnell in kritisches Gelände», sagt Streicher.
Das Hochgebirge ist mit dem Massentourismus zugänglicher geworden. Doch es verzeiht noch immer keine Fehler. Gerade bei Menschen, die sich in einem Vergnügungspark wähnen.
Streicher schliesst: «In den letzten Jahrzehnten hat sich die Vorstellung verfestigt, dass jeder alles machen kann. Was weniger vermittelt wird, sind die Gefahren, die damit einhergehen.»
Wissenswertes zum Wandern
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