Im Tessin waren die Wirren des Zweiten Weltkriegs nah. Mussolinis faschistisches Italien war nur einen Steinwurf entfernt.
Nachdem die Alliierten im Juli 1943 in Süditalien gelandet waren, kapitulierte Italien Anfang September desselben Jahres. In der Folge besetzte die deutsche Wehrmacht Norditalien, ab Mitte September sollten die italienischen Männer in die deutsche Armee eingezogen werden. Die Nationalsozialisten begannen in Norditalien mit der Deportation der jüdischen Menschen. Die Kriegswirren machten vor der Grenze nicht Halt, der Krieg war auch in der Schweiz allgegenwärtig.
Die Grenze – eine künstliche Linie in der Landschaft, die trennt, aber auch vereint. So auch die Lebensgeschichten von Erwin Naef und Aline Valagin.
Getroffen haben sich der Grenzsoldat und die Schriftstellerin wohl nie persönlich. Für beide hat die Südgrenze der Schweiz während den Kriegsjahren aber eine prägende Rolle gespielt. Erwin Naef musste sie bewachen und schutzsuchende Menschen zurückweisen. Aline Valagin wurde zur stillen Beobachterin eines Grenzdorfes, in dem Schmuggler, Partisanen und Flüchtlinge ankamen. Zuflucht gegeben haben beide – Erwin Näf jüdischen Familien und Aline Valagin einer intellektuellen Avantgarde, die wie gestrandete Fremde im bescheidenen Bergdorf landeten.
Briefe von der Grenze
Das Papier ist vergilbt, die Schrift säuberlich. Es sind Zeilen aus dem Zweiten Weltkrieg, datiert im September 1943, an der Südgrenze der Schweiz.
Der Verfasser: Erwin Naef, Oberleutnant aus Rorschach. Zur Unterstützung der Tessiner Grenzwächter werden er und seine Soldaten an die Südgrenze geschickt. Von dort aus schreibt er seiner Frau Alice Briefe.
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Bild 1 von 5. Aus den Briefen von Erwin Naef im Jahr 1943. Bildquelle: SRF.
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Bild 2 von 5. Aus den Briefen von Erwin Naef im Jahr 1943. Bildquelle: SRF.
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Bild 3 von 5. Aus den Briefen von Erwin Naef im Jahr 1943. Bildquelle: SRF.
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Bild 4 von 5. Aus den Briefen von Erwin Naef im Jahr 1943. Bildquelle: SRF.
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Bild 5 von 5. Aus den Briefen von Erwin Naef im Jahr 1943. Bildquelle: SRF.
Erwin Naef ist damals dreissigjährig, diensttreu, stolzer Armeeangehöriger, «der Dienst ist äusserst interessant», schreibt er. Erwin Naef ist aber auch ein gläubiger Mensch, einer, der hohe moralische und ethische Ansprüche an sich stellt, sich sozial engagiert. Als er im September 1943 an der Grenze zu Italien steht, prallen diese Eigenschaften mit voller Wucht aufeinander.
Erlebte das Traurigste, was mir je im Leben begegnete.
«Meine allerliebste Frau», schreibt er, «gestern wurde ich gottseidank abgelöst. Bin jetzt Reserve. In der vergangenen Woche erlebte ich das Traurigste, was mir je im Leben begegnete.»
Naef und seine Soldaten treffen im unwegsamen Gelände auf jüdische Flüchtlinge – «diese waren meistens deutschen Judenlagern entsprungen und nach unseligen Leiden irgendwo im Dickicht an unserer Grenze durch ein Loch im Drahtgehege geschlüpft, sanken hier vor Müdigkeit um.»
Die Briefe geben Einblick in dramatische Tage, Naefs Versuche, bei seinen Vorgesetzten die Erlaubnis zu bekommen, jüdische Familien aufzunehmen, scheitern. «Mit Waffengewalt hinaus», so der Befehl.
Ich hatte mich schon oft abgewendet, um meine Tränen abzuwischen.
«Wiederum», schreibt Naef, «befahl ich den Soldaten die Abschiebung mit Gewalt. Kurzes Handgemenge und schreckliches Kreischen der Frauen und Kinder. Das war auch für den Major zu viel. Wahrlich kugelten Tränen über seine Backen. Ich hatte mich schon oft abgewendet, um meine Tränen abzuwischen.»
Gefunden wurden die Briefe vor rund zehn Jahren, lange nach Naefs Tod. Und auch nachdem die Rolle der Schweiz mit der strikten Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkrieges von der Bérgier-Kommission aufgearbeitet worden war.
Der Fund der Briefe war für Historikerinnen und Historiker eine Sensation, bis anhin gab es keine vergleichbare Quelle, die die Perspektive der Grenzsoldaten dokumentierte. Dadurch dass Naef die Briefe an seine Frau richtete, waren sie persönlich, intim, zeigten seine innere Zerrissenheit. Und: Er schrieb sie unmittelbar, abends nach Dienst, bevor sich unter Umständen verzerrende Erinnerungsfragmente über die damalige Wahrnehmung legten.
Die Briefe dokumentieren auch, wie es Erwin Näf trotzdem gelingt, jüdische Familien in die Schweiz zu lassen und damit zu retten: «Ich telefonierte sofort dem Bürgermeister von Pedrinate um die Hilfe des roten Kreuzes. In 1/4 Stunde standen 4 Mädchen vom Frauenhilfsdienst da und Rotkreuzbinde und Bahre. Die Führerin, ein 21-jähriges Mädchen, Tochter meiner Philisterin, ordnete alles Nötige an. Meine Soldaten trugen die Kranken nacheinander zurück in die Wirtschaft.» Erwin Naef schreibt, wie er die Geretteten am nächsten Morgen besucht, um ihnen Mut zuzureden. Naef lotete seinen Handlungsspielraum aus. Er setzte ein Zeichen der Menschlichkeit, die Zerrissenheit aber blieb.
Die Briefe sind auch eine Art Fenster zum damaligen Alltag im Aktivdienst. In seinem ersten Brief, der Dienst im Tessin hatte gerade erst begonnen, schreibt er von den grossen Tessiner Trauben, von dem Wein, den Blumen – «doch fehlst Du, meine liebe, herzige Frau. Es ist so schwer einzuschlafen. Man sträubt sich vor dem Bett.» Und dann am Ende des Briefes: «Mir fehlen Hemden, Socken, kurze Unterhosen.» Die Banalität des Alltags, neben den traurigsten menschlichen Abgründen, auch ein Symbol für Naefs Erlebnisse an der Grenze. Der Krieg ist auf der anderen Seite. Und doch so nah.
Ein alter Palazzo, am Ende des Onsernonetals
Ende der 1920er Jahre reist die spätere Schriftstellerin Aline Valagin zum ersten Mal ins Onsernonetal, um dort mit ihrem Mann einen alten Palazzo zu kaufen. Der italienische Schriftsteller Ignazio Silone wird später einen Teil seines Werkes Fontamara in diesem Palazzo schreiben und ihn als «Arche Noah» bezeichnen. Das passt, in vielerlei Hinsicht.
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Bild 1 von 3. Palazzo «La Barca» in Comologno im Onsernonetal. Bildquelle: SRF.
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Bild 2 von 3. Schriftstellerin Aline Valagin war auch eine ausgebildete Pianistin. Bildquelle: SRF.
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Bild 3 von 3. Die Gäste der «La Barca» waren Flüchtlinge, oft Künstlerinnen und Künstler. Bildquelle: SRF.
Denn einerseits wurde der Palazzo von den Menschen des Tals «La Barca» genannt, als Erinnerung an seine Geschichte. Im 18. Jahrhundert war ein junger Mann aus dem Tal nach Paris gezogen und kaufte dort ein verschollenes Handelsschiff. Das war damals nicht unüblich, denn ein Schiff, das nicht zum errechneten Zeitpunkt im Hafen eintraf, wurde von seinen Besitzern oft verkauft, um das Risiko abzugeben. Das Schiff des Tessiners aber traf ein, wenn auch erst viel später, und machte den jungen Mann reich. Später kehrte er ins Tal zurück und liess sich an bester Lage einen Palazzo erbauen – «La Barca».
«Arche Noah» passt auch, weil die Schriftstellerin Aline Valagin und ihr Mann im Palazzo vor und während des Krieges einen Zufluchtsort für vertriebene Intellektuelle aus ganz Europa schufen. Schriftsteller wie Kurt Tucholsky reisten an. Eine intellektuelle Avantgarde und eine surreale Parallelwelt zum sonst bescheidenen Leben im Tal, das die Frauen oft alleine meistern mussten, weil die Männer im Aktivdienst waren. Geprägt vom Krieg waren beide Welten.
Aline Valagin, Konzertpianistin und später von C.G Jung ausgebildete Psychoanalytikerin, begann in «La Barca» selbst zu schreiben. Und wurde damit zur stillen Beobachterin des Tals.
Sie waren Vorboten des Flüchtlingsstroms gewesen, der sich nun von den Bergen herunter ergoss.
In ihrem Buch «Dorf an der Grenze» beschreibt sie, wie Schmuggler, Flüchtlinge und Partisanen über die Grenze gelangen und im Dorf Schutz suchen. Tatsächlich half der Reis, den Schmuggler von Italien herbrachten, den Menschen, ohne Hunger durch den Krieg zu kommen.
Gleichzeitig kam es nahe der Schweizer Grenze, bei den Bagni di Craveggia, die gegen Ende des Krieges Teil der Partisannenrepublik Ossola waren, zu einem blutigen Gefecht zwischen den flüchtenden Partisanen und ihren Verfolgern – Umstände, die Aline Valagin in ihre Erzählung einfliessen lässt.
Genauso die ungeschönten Beschriebe der jüdischen Flüchtlinge, die Schutz suchten und oft zurückgeschickt wurden: «Die zwei jüdischen Flüchtlinge hatte den Anfang gemacht. Sie waren Vorboten des Flüchtlingsstroms gewesen, der sich nun von den Bergen herunter ergoss. Sie drangen einzeln oder in Gruppen ein, ausgestattet mit viel Gepäck oder abgerissenen Lumpen, halb erfroren und verhungert, voller Wunden, unfähig, sich zu erklären, irrsinnig. An der Grenze wusste sich die verstärkte Wache kaum zu helfen, ‹Die Leute purzeln von den Bergen wie Wasserfälle, wenn’s regnet›, klagte Bozzi, ‹sie rinnen einem zwischen den Fingern durch.›»
Es sind ehrliche Zeilen, die zeigen, wie der Zweite Weltkrieg als Gespenst im Onsernonetal allgegenwärtig war. Ein spannendes Zeitzeugnis – auch, weil das Buch erst in den 1980er-Jahren gedruckt werden konnte. Unmittelbar nach dem Krieg waren die Beobachtungen wohl doch eine Spur zu kritisch.