Ein Umfragewert von 53 Prozent Ja-Stimmen kurz vor dem Abstimmungstermin für eine linke Initiative, die den Ausbau des Sozialstaates verlangt: Das ist bemerkenswert. Es ist insbesondere deshalb bemerkenswert, weil SP und Grüne zusammen nur auf einen Wähleranteil von knapp einem Drittel kommen. Die Initiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) findet also Zustimmung weit über das linke Lager hinaus.
Mit seiner Initiative für eine 13. AHV-Rente ist dem Gewerkschaftsbund ein Wurf gelungen – unabhängig davon, ob es am 3. März für die Annahme reicht, also für ein Ja bei Volk und Ständen.
Folgenschwerer Verzicht auf Gegenvorschlag?
Profitiert hat der SGB sicher davon, dass die bürgerlichen Parteien die Initiative unterschätzt haben: Hätten sie im Parlament einen griffigen Gegenvorschlag gezimmert, die Initiative hätte wohl kaum eine Chance gehabt. Ein Gegenvorschlag, der gezielt die bedürftigsten AHV-Rentnerinnen und -Rentner unterstützt, hätte der Initiative viel Wind aus den Segeln genommen.
Profitiert hat der Gewerkschaftsbund auch von der Nein-Kampagne, die zu wenig gezündet hat, und von einem verzweifelten Aufruf verschiedener bürgerlicher alt Bundesrätinnen und Bundesräte. Dass sie das einfache Volk von einem Nein überzeugen wollten – obwohl sie selbst eine stattliche Rente von 230‘000 Franken im Jahr erhalten – dies war ein klassisches Eigentor.
«Jetzt sind wir mal dran!»
Profitiert hat der SGB letztlich aber vor allem von den jüngsten politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen. Während der Coronakrise sprang der Staat mit Millionenkrediten zugunsten der Unternehmen in Not ein. Und auch bei der serbelnden Credit Suisse war er bereit, mit Milliarden für eine Stabilisierung zu sorgen. Es entstand bei vielen der Eindruck: Geld ist schon vorhanden.
Hinzu kommen massiv steigende Krankenkassenprämien, zunehmende Energiepreise infolge des Ukrainekrieges und höhere Mieten wegen der verbreiteten Wohnungsknappheit. Diese Faktoren machen das Leben für den Mittelstand schwieriger. Umso deutlicher ist bei vielen der Ausspruch zu vernehmen: «Jetzt sind einmal wir dran!»
Dass der Zeitgeist günstig ist für die SGB-Initiative, zeigt der Vergleich mit der Initiative «AHVplus» von 2016. Die Initiative forderte ebenfalls einen Ausbau der AHV-Renten, blieb vor acht Jahren aber chancenlos.
Ein Weckruf für Bundesbern
Noch hat der Gewerkschaftsbund die Abstimmung nicht gewonnen. Laut den Auguren ist der Ausgang offen. Doch die Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter dürfen sich zugutehalten, dass sie ein breites Unbehagen in der Bevölkerung gespürt und darauf reagiert haben.
Bundesrat und Parlamentsmehrheit lehnen die Initiative für eine 13. AHV-Rente ab. Aktuell würde es aber nicht überraschen, wenn der Souverän an der Urne die Sache dreht. Bundesrat und Parlament tun also gut daran, die wirtschaftlichen Sorgen breiter Kreise ernst zu nehmen.