Es ist der 16. März 2023: Maros Sefcovic, Vizepräsident der EU-Kommission, besucht die Schweiz. Die Gewerkschafter Pierre-Yves Maillard und Adrian Wüthrich haben ihn bei einem Gespräch getroffen. Laut Wüthrich hat Sefcovic den Gewerkschaften damals ein vielversprechendes Angebot gemacht. «Grob gesagt hat Herr Sefcovic Zugeständnisse gemacht, in dem Sinne, dass die Schweiz eine Absicherung des bestehenden Lohnschutzes bekommt.»
Den Gewerkschaften geht es darum, dass das Schweizer Lohnniveau auch in einem Abkommen mit der EU beibehalten wird. Gegenüber der dynamischen Übernahme von EU-Recht und dem Streitbeilegungsmechanismus soll der Lohnschutz abgesichert sein.
Sozialpartner fordern beherzteres Vorgehen
Adrian Wüthrich, Präsident von Travail Suisse, hat den Eindruck, das mündliche Angebot der EU gehe in die Richtung, wie sich dies die Gewerkschaften wünschen. Livia Leu, die Staatssekretärin und Chefunterhändlerin mit der EU, müsse aber nun den Vorschlag in den Sondierungsgesprächen konkretisieren. «Ich hoffe, die Schweizer Seite nimmt diesen Ball auf und wird ihrerseits Lösungen vorschlagen, damit man diese Idee in einen Vertragstext ummünzen kann.»
Nicht äussern dazu will sich der Schweizerische Gewerkschaftsbund. Er will sich erst nach seiner Delegiertenversammlung Anfang Juni positionieren. Dafür findet der Schweizerische Gewerbeverband, der ebenfalls beim Gespräch im März dabei war, klare Worte.
Es wäre sicher angebracht, dass die Schweiz eine führende Rolle übernehmen würde.
Auch Fabio Regazzi, Präsident des Schweizerischen Gewerbeverbandes, fordert ein entschlosseneres Vorgehen bei den Sondierungsgesprächen mit der EU. «Ich bin der Meinung, dass die Schweiz hier proaktiv werden sollte, weil wir in der Schweiz besser verstehen, was unsere Erwartungen in diesem Zusammenhang sind. Zudem wäre es sicher angebracht, dass die Schweiz eine führende Rolle übernehmen würde», so Regazzi.
Leu will den Vorschlag vertieft analysieren
Chefunterhändlerin Livia Leu will den Vorschlag zwar mit der EU anschauen. Sie will aber, dass die EU den Vorschlag zuerst konkretisiert. «Das ist ein relativ neuer Vorschlag von der EU, den wir noch beraten und den auch die EU noch genauer substanziieren muss. Ich kann dazu im Moment noch nicht viel sagen, aber das Positive ist, dass Herr Sefcovic seinerseits mit Vorschlägen kommt», betont Leu.
Bis Ende Juni soll Livia Leu die Sondierungen abschliessen und Eckpunkte für ein Verhandlungsmandat mit der EU festlegen. Zeitlich dürften diese Vorgaben ehrgeizig sein. Dazu sagt Chefunterhändlerin Leu: «Das wollen wir sicher anschauen. Wenn man im Gespräch ist mit einem Partner und der Ideen auf den Tisch legt, sollte man nie nein sagen. Die Sozialpartner haben das a priori als eine gute Idee angeschaut.»
Noch kein Durchbruch
Da das Angebot von Sefcovic mündlich gemacht wurde, interpretieren es Gewerkschaften unterschiedlich. Es sei derzeit auch nicht klar, ob das Angebot der EU wirklich mit den Vorstellungen der Gewerkschaften übereinstimmt, betont SRF-Bundeshausredaktorin Nathalie Christen.
«Es wäre bemerkenswert, wenn die Lohnschutzmassnahmen so bleiben könnten, wie sie heute sind und der Europäische Gerichtshof dazu nichts zu sagen hätte. Damit wäre die wichtigste Forderung der Gewerkschaften erfüllt – und das wiederum würde bedeuten, dass innenpolitisch erstmals Mehrheiten für ein solches Abkommen möglich würden.»
Hinter den Kulissen gebe es aber erhebliche Zweifel, so Christen. Immer wieder höre man Interpretationen, dass die EU unter dem gleichen Lohnschutz trotzdem ein ganz anderes System versteht, als die Schweiz es heute kennt. Das könnte eine Einigung mit den Gewerkschaften erschweren.