Im Oktober begann die Kampagne für den zweiten Corona-Booster. Das Interesse daran ist aber gering, auch bei den älteren Menschen. Darum schliesst etwa in Heiden (AR) gar das Impfzentrum. Wie wirkt sich das auf den Pandemieverlauf aus? Eine Drei-Monatsbilanz mit der ETH-Professorin Tanja Stadler.
SRF News: Wirkt eine zweite Auffrischimpfung?
Tanja Stadler: Daten vulnerabler Personen zeigen, dass das Risiko, hospitalisiert zu werden, mit einer zweiten Auffrischungsimpfung deutlich gesenkt werden kann.
Angenommen, eine Gruppe vulnerabler Personen holt sich keine Auffrischungsimpfung. Nun müssten beispielsweise 30 von ihnen ins Spital. In einer gleich grossen Gruppe vulnerabler, aber frisch geboosterter Personen, müssten nur zehn Personen hospitalisiert werden. Die Auffrischungsimpfung reduziert also die Anzahl Spitaleinweisungen wegen einer Corona-Infektion.
Ist Corona grundsätzlich noch gefährlich?
Ja, so sehen wir es momentan. Wir hatten in den letzten Wochen doch eine relevante Anzahl Hospitalisierungen wegen Corona. Das heisst, dieses Virus erzeugt weiterhin schwere Verläufe. Aber wir haben es geschafft – mit Impfungen und den vielen Infektionen – dass die Schweizer Bevölkerung eine sehr komplexe Immunität aufgebaut hat.
Eine erneute Coronawelle hat nicht mehr dieses Ausmass, wie wir das noch im 2020 gesehen haben.
Eine erneute Coronawelle hat also nicht mehr dieses Ausmass, wie wir das noch vor den Impfungen im Jahr 2020 gesehen haben. Aber das Coronavirus verursacht weiterhin viele Infektionen und das führt dadurch auch zu einer relevanten Anzahl Langzeitfolgen, also Long Covid.
Wird diese Gefahr von der Bevölkerung unterschätzt?
Das Coronavirus ist da. Es gibt immer wieder Meldungen, dass beispielsweise Tramkurse ausfallen, weil es sehr viele Infektionen und Krankheitsfälle gibt. Das Gleiche passiert in Spitälern, wo sich der Personalmangel zuspitzt, wenn viele Menschen gleichzeitig an Corona erkranken. Daneben haben Spitäler auch viel zu tun mit Patienten mit anderen respiratorischen Viren wie Influenza oder dem RS-Virus. All das ist für die Gesellschaft eine zusätzliche Belastung.
Befinden wir uns in einem endemischen Zustand?
Laut der Definition der WHO sind wir – mit Blick auf China – weiterhin in einer Pandemie, also einem globalen Problem. Endemisch meint, dass wir uns in einem regulären Zustand befinden. Endemisch bedeutet aber nicht mild. Zum Beispiel ist Malaria in vielen Gebieten endemisch. Allerdings kann es trotzdem sehr gefährlich bleiben.
Wie schätzen sie die aktuelle Lage ein?
Die Schweiz hat es geschafft, dass fast alle Menschen eine gewisse Immunität gegen das Coronavirus aufgebaut haben. Wir sind also nicht mehr so verwundbar.
Wir sind nicht gebannt vor langfristigen Folgen wie Long Covid.
Aber wir können uns weiterhin anstecken und sind nicht gebannt vor langfristigen Folgen wie Long Covid, was bei Infizierten wie auch bei Reinfizierten vorkommt.
Könnte es noch zu weiteren Varianten kommen?
Das Virus zirkuliert die ganze Zeit. Dadurch kann es auch Mutationen geben. Momentan scheint sich das Virus zwar weiterzuentwickeln, aber es schafft es nicht, noch einmal ganz grosse Sprünge zu machen. Ausgeschlossen ist natürlich nichts.
Stehen wir also vor einem sicheren Winter?
Momentan sehen wir im Abwasser, dass die Viruszirkulation zunimmt, vermutlich wegen der neuen dominanten Variante BQ.1.1, einer Weiterentwicklung von Omikron. Wir gehen davon aus, dass es über den Winter immer wieder gehäuft zu Corona-Infektionen kommt. Damit nimmt auch das Risiko von Langzeitfolgen für die Schweizer Bevölkerung zu.
Das Gespräch führte Tobias Bossard.