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Daniel Jositsch im Polit-Interview
Aus 10 vor 10 vom 05.06.2024.
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Daniel Jositsch im Interview «Man muss halt auch den Richtern sagen: Es gibt Grenzen»

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte Anfang April auf eine Beschwerde des Vereins Klimaseniorinnen hin eine Verletzung der Menschenrechtskonvention durch die Schweiz festgestellt. Sie sei ihren Aufgaben beim Klimaschutz nicht nachgekommen. Der Ständerat hat nun das Klima-Urteil gegen die Schweiz kritisiert und in einer Erklärung festgehalten, dass er keine zusätzlichen Klima-Massnahmen aufgrund des Urteils will.

Auch der linke Ständerat Daniel Jositsch gehört zu den Kritikern des Urteils und nimmt Stellung zur Erklärung des Ständerats.

Daniel Jositsch

Ständerat SP Kanton Zürich

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Daniel Jositsch wurde 1965 in Zürich geboren und wuchs in der Stadt und im Zürcher Limmattal auf. Er studierte Rechtswissenschaften an der Universität Zürich und ist heute als Strafrechtsprofessor tätig. Zudem ist er Präsident des Verbandes KV Schweiz.

Daniel Jositsch vertritt seit 2015 den Kanton Zürich im Ständerat. Zuvor sass er für die SP im Nationalrat.

SRF: Daniel Jositsch, heisst diese Erklärung, die Schweiz setzt Urteile des EGMR nur um, wenn sie dem Ständerat passen?

Daniel Jositsch: Nein, absolut nicht. Wir haben heute ja auch festgestellt, dass wir der Meinung sind, wir hätten das Urteil bereits umgesetzt.

Dann könnte man dem Gerichtshof ja auch ganz gelassen zurückmelden, die Schweiz habe seit dem Urteil noch eine Gesetzesänderung gemacht – alles in bester Ordnung.

Das stimmt. Aber es gibt eine grundsätzliche Frage: Ist es die Aufgabe des Gerichtshofes, selbstständig neues Recht zu entwickeln? Und da will der Ständerat nun einen Riegel schieben: Das ist nicht die Aufgabe des Gerichtshofes.

Der Ständerat sagt in der Erklärung aber auch, dem Urteil solle keine weitere Folge gegeben werden. Amnesty International zum Beispiel sieht darin ein verheerendes Signal an europäische Staaten, wählen zu können, welche Urteile sie befolgen: Die Schweiz könnte zur Brandstifterin werden und die zentralen Institutionen des Menschenrechtsschutzes in Europa gefährden.

Ich glaube, das ist tatsächlich ein gewisser Kollateralschaden, den der Europäische Gerichtshof verursacht hat. Indem er selbstständig entschieden hat, er könne die Menschenrechtskonvention weiterentwickeln. Dem müssen wir hier Grenzen setzen und damit auch zeigen, dass wir diese Institutionen schützen wollen.

Richter haben natürlich gerne, wenn sie alles entscheiden und über allem stehen.

Begibt sich die Schweiz damit aufs Niveau von Ländern wie Russland, das Urteile auch nur befolgen will, wenn es ihm passt?

Nein, Länder wie Russland ignorieren Urteile. Wir hingegen haben unterdessen das CO₂-Gesetz angenommen. Das heisst: Im Rahmen unserer demokratischen Möglichkeiten haben wir uns an das Urteil gehalten.

Alt Bundesrichter Niccolò Raselli nannte die Erklärung ein «verantwortungsloses Signal an die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, Gerichtsurteile nach eigenem Gusto zu missachten».

Richter haben natürlich gerne, wenn sie alles entscheiden und über allem stehen. Man muss halt auch den Richtern, leider auch Raselli, sagen: Es gibt Grenzen. Die meisten Richter, und insbesondere das Bundesgericht, halten sich auch daran.

Was ist so schlimm daran, wenn der EGMR das Recht weiterentwickelt? Als die Menschenrechtskonvention in den 1970er-Jahren entstand, war der Klimawandel kein grosses Thema.

Man sagte damals ganz bewusst, man könne diese Konvention nur weiterentwickeln, wenn alle Staaten einverstanden sind. Darum gibt es keine Änderungen mehr. Der Gerichtshof entschied nun einfach, das selbst zu machen. Aber in der Gewaltenteilung ist das die Aufgabe des Parlaments – und das Gericht muss überprüfen, dass das eingehalten wird.

Die Schweiz wurde verurteilt für ein globales Problem, das sie allein nicht lösen kann.

Ist es denn Aufgabe des Ständerats, Urteile vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu kritisieren?

Eigentlich nicht, das machen wir normalerweise auch nicht. Aber wir kritisieren, dass das Gericht seine Kompetenzen überschreitet und selbst Recht geschaffen hat.

Warum reagierte denn der Ständerat nicht schon früher, zum Beispiel als die Schweiz verurteilt wurde, weil Witwer nicht die gleiche Rente haben wie Witwen?

Da haben Sie recht, das ist auch ein solches Beispiel. Nur kommt jetzt noch etwas dazu: Die Schweiz wurde verurteilt für ein globales Problem, das sie allein nicht lösen kann. Wenn die Schweiz ab sofort kein CO₂ mehr ausstossen würde, würde sich das Problem nicht lösen. Das zeigt: Das ist ein grosses politisches Problem, das wir mit allen Staaten lösen müssen. Da können nicht siebzehn Richter entscheiden, was die Schweiz machen soll.

Das Gespräch führte Nathalie Christen.

Video
Ständerat kritisiert Strassburger Klima-Urteil
Aus Tagesschau am Vorabend vom 05.06.2024.
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10 vor 10, 5.6.2024, 21:50 Uhr ; 

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