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Ein Jahr EGMR-Klimaurteil Was bleibt vom grandiosen Sieg der Klimaseniorinnen?

Signal und politische Realität: Zwei Fachleute ziehen Bilanz zum Urteil aus Strassburg gegen die Schweizer Klimapolitik.

Vor einem Jahr verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg die Schweiz, weil sie zu wenig gegen den Klimawandel unternehme. «Historisch», «bahnbrechend» und ein Urteil mit «Signalwirkung» titelten damals Medien im In- und Ausland ihre Berichte zur Klage der Schweizer Klimaseniorinnen.

Der Gerichtshof hat zum ersten Mal den Zusammenhang zwischen Klimakrise und Menschenrechten bestätigt.
Autor: Helen Keller Professorin für öffentliches Recht, Universität Zürich

Es war die erste Klimaklage, die am EGMR gutgeheissen wurde. Allein schon deshalb sei die Bedeutung des Urteils nicht zu unterschätzen, ist Helen Keller, Rechtsprofessorin an der Universität Zürich und ehemalige EGMR-Richterin, überzeugt. Erstmals habe ein internationales Gericht den Zusammenhang zwischen der Klimakrise und den Menschenrechten bestätigt: «Ich bin sicher, dass ‹Klimaseniorinnen gegen die Schweiz› in die Reihe der ganz grossen Urteile des Gerichtshofes eingehen wird.»

Klimaseniorinnen am 9. April in Strassburg
Legende: Die Co-Präsidentinnen der Klimaseniorinnen Anne Mahrer (links) und Rosmarie Wydler-Waelti (rechts) schrieben am 9. April 2024 in Strassburg Geschichte. Keystone / Jean-Christophe Bott

Innenpolitisch stiess das Klimaurteil allerdings auf viel Kritik. Die Schweiz solle diesem nicht weiter Folge leisten, forderten Politikerinnen und Politiker von rechts bis in die Mitte.

Signalwirkung, aber kein Rezept für die Innenpolitik

Auch der Bundesrat hielt letzten Sommer fest, dass die Schweiz schon genug gegen den Klimawandel tue. Die Anforderungen im Klimaschutz seien unter anderem mit dem vor einem Jahr verabschiedeten CO₂-Gesetz erfüllt. Dieses sei im EGMR-Urteil aber noch nicht berücksichtigt worden.

Kein Gerichtshof dieser Welt kann die Klimakrise lösen. Das wäre eine völlige Überforderung der Gerichte.
Autor: Helen Keller Professorin für öffentliches Recht, Universität Zürich

Ist der juristische Weg also der falsche, um im Klimaschutz etwas bewirken zu können? «Kein Gerichtshof dieser Welt kann die Klimakrise lösen. Das wäre eine völlige Überforderung der Gerichte», stellt Keller dazu fest. Gleichzeitig sei es aber die Aufgabe der Gerichte, das vereinbarte Recht einzufordern und den Staaten zu sagen, was zur Umsetzung nötig sei.

Der Gerichtshof macht nicht die Schweizer Innenpolitik, und an Parlament, Bundesrat und Volk führt nichts vorbei.
Autor: Thomas Bernauer Professor für Umweltpolitik, ETH Zürich

So ein Urteil könne zwar eine Signalwirkung entfalten, doch letztlich würden die politischen Mehrheiten im Land entscheiden, erklärt Thomas Bernauer, Professor für Umweltpolitik an der ETH Zürich: «So ein Urteil kann die öffentliche Debatte stimulieren und vielleicht jenen Rückenwind geben, die mehr Klimaschutz wollen.» Aber der Gerichtshof mache nicht die Schweizer Innenpolitik, und an Parlament, Bundesrat und Volk führe nichts vorbei.

Kommt hinzu, dass der EGMR der Schweiz keine konkreten Vorgaben gemacht hat, wie sie ihre Klimaziele zu erreichen hat. Damit ist zwar laut Bernauer der politische Handlungsspielraum gewahrt, doch konkrete Lösungen würden dadurch nicht wahrscheinlicher.

Wunsch und Wirklichkeit

Denn bei der Frage, ob Klimawandel ein Problem sei und die Politik mehr dagegen tun müsste, sei die Zustimmung immer sehr hoch, so Bernauer. Doch bei konkreten Fragen, etwa zu einem Verbot von Ölheizungen oder einer stärkeren Besteuerung von Flugreisen, gehe die öffentliche Unterstützung sehr stark zurück.

Bisher scheint das Klimaurteil also zumindest innenpolitisch vor allem emotionale Debatten ausgelöst zu haben. Das letzte Kapitel ist aber noch nicht geschrieben: Bis im Herbst muss die Schweiz das Ministerkomitee des Europarates über ihre Klimastrategie informieren. Angesichts der aktuellen Mehrheitsverhältnisse und der politischen Grosswetterlage ist hier aber kaum ein Kurswechsel zu erwarten.

Rendez-vous, 9.4.2025, 12:30 Uhr; sten

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