175 Jahre und kein bisschen müde: Die Bundesverfassung mag aus einer Zeit stammen, als Männer noch Zylinder und Monokel trugen und die Röcke der Frauen bis zu den Fusssohlen reichten. Doch sie bleibt ein politischer Dauerbrenner – und hält (mehr oder weniger) Schritt mit dem Zeitgeist.
Nach drei Totalrevisionen – die letzte davon vor einem Vierteljahrhundert – werden wieder Stimmen laut, sie grundsätzlich zu überarbeiten. Heute aber wurden staatspolitische Befindlichkeiten beiseitegelegt: Es galt das Jubiläum der Bundesverfassung zu feiern, das just auf die Herbstsession fiel.
Illustrer Gast im Nationalrat
Nationalratspräsident Martin Candinas, der eigentlich nur Abgeordneten zu ihrem Geburtstag gratuliert, fand sich in einer ungewohnten Rolle: Mit salbungsvollen Worten richtete er sich an den illustren Gast, und freute sich: «Endlich ist sie wieder da, unsere Bundesverfassung!»
Da lag es nun, morgens um 8 Uhr, das fragile Herzstück der Schweizer Demokratie. Unter grössten Sicherheitsvorkehrungen war das Originalexemplar von 1848 aus dem Bundesarchiv in den Nationalratssaal gebracht worden. Es waren bange Stunden für die zurückgebliebenen Archivare auf der anderen Seite der Aare.
Im Ratssaal wurde die Bundesverfassung sogleich von den ersten Parlamentarierinnen und Parlamentariern begutachtet. Bevor sie sich dreieinhalb Stunden lang anhören konnte, wie auf Grundlage ihrer Prinzipien Politik gemacht wird. Auch wenn sich wohl kaum jemand zum Geburtstag eine Debatte über eine Lizenzpflicht für Lastwagen wünscht.
Um 11:30 Uhr ging es dann aber los mit den Feierlichkeiten. Zum Auftakt wurde in sanften Bläser-Tönen die Nationalhymne angestimmt – bevor die Humoristen Gilbert und Oleg das Ratszepter von Martin Candinas übernahmen. Welche Pointe sass und welche nicht, liess sich eindrücklich an den Gesichtern der Bundesräte im Hintergrund ablesen.
Schliesslich wurde der Redereigen eröffnet: Der Politologe Claude Longchamp blickte auf «die Geburt einer parlamentarischen Republik in einem monarchistischen Europa zurück. Es war ein Pionierakt».
Auf weitere 175 Jahre
Phanee de Pool sorgte für einen künstlerischen Höhepunkt der Feierlichkeiten: Slam-Poetry im Bundeshaus – jetzt haben die drei Eidgenossen alles gesehen.
Markus Dieth sang derweil ein Loblied auf den Föderalismus und die «Einheit in der Vielfalt»: «Zäme für öisi Schwiiz, auf weitere erfolgreiche 175 Jahre», beendete der Präsident der Konferenz der Kantonsregierungen sein Votum. Mit musikalischen Einlagen aus allen Landesteilen und weiteren Festreden klang die Jubiläumsfeier schliesslich aus.
Die Gründung der modernen Schweiz war ein Wurf, ein Wagnis, ein Akt der Zukunftseroberung.
Einen mahnenden Schlusspunkt setzte Alain Berset: «Die Gründung der modernen Schweiz war ein Wurf, ein Wagnis, ein Akt der Zukunftseroberung», sagte der Bundespräsident. «Dies steht in scharfem Kontrast zu dem, was wir heute allzu oft erleben: Das vorsichtige Verwalten eines Status quo, der langsam erodiert, einem Zeitgeist, der von Besitzstandwahrung und manchmal sogar Pessimismus geprägt ist.»
Die Bundesverfassung mag alt sein, aus der Zeit gefallen ist sie aber nicht. Und nach kurzweiligen 90 Minuten kann sie sich wieder im Bundesarchiv schlafen legen. Mit der beruhigenden Gewissheit, dass sie jederzeit wieder willkommen ist.