1.25 Millionen Menschen in der Schweiz leben an der Armutsgrenze. Diese liegt hierzulande bei einer vierköpfigen Familie bei knapp 4000 Franken Netto. Ihnen droht jetzt die finanzielle Notlage, denn die Lebenskosten steigen.
Wer sich bisher über Wasser habe halten können, drohe jetzt zu sinken, sagt Philipp Frei vom Dachverband Budgetberatung im «Club». «Ein Bauarbeiter sass weinend bei mir in der Beratung, weil er seinem Kind kein Weihnachtsgeschenk kaufen konnte.»
Armut kommt oft unerwartet
Im «Club» erzählen Armutsbetroffene, wie sie unerwartet in die Armut rutschten, trotz Ausbildung und Anstellung. Da ist der Familienvater und Metzger: Nachdem er einen Herzinfarkt erlitten hatte, folgte auch noch die Scheidung. «Ich konnte keine Schichtarbeit mehr leisten. Erst ging mein Lohn zurück, dann mein Vermögen. Am Schluss hatte ich nichts mehr.»
Oder die alleinerziehende Mutter mit einem beeinträchtigten Kind: «Die Pflege ist aufwendig, eine Vollzeitstelle liegt nicht drin.»
Und trotzdem: Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann sieht die Lage nicht ganz so schlimm: «8.7 Prozent der Schweizer Bevölkerung leben in Armut. Die meisten finden aber nach vier Jahren wieder raus», dies zeige eine Studie des Bundesamts für Statistik.
Weniger frei verfügbares Einkommen
Die Schlagzeilen zu den steigenden Lebenskosten sind nicht neu: Bereits im letzten Jahr warnte man vor höheren Preisen. Beunruhigend ist die Entwicklung des Einkommens, das nach Abzug der Fixkosten wie Miete, Steuern und Prämien sowie weiteren lebensnotwendigen Ausgaben wie Essen übrig bleibt.
Eine Auswertung der Budgetberatung Schweiz zeigt: In den letzten 40 Jahren ist das frei verfügbare Einkommen stark geschrumpft. Eine Familie mit zwei Kindern und 4500 Franken Nettolohn hatte 1980 noch 940 Franken zur freien Verfügung. 2020 wäre die gleiche Familie 250 Franken im Minus.
«Es ist ein Ohnmachtsgefühl. Egal, was man macht, man hat immer weniger Geld auf dem Konto», sagt Philipp Frei, Geschäftsführer des Dachverbands. Aus seiner Budgetanalyse wird klar: Immer mehr Menschen aus dem Mittelstand suchen finanzielle Beratung. Viele wollen dabei anonym bleiben, denn Armut ist in der Schweiz mit Scham behaftet.
Sozialwerke helfen – aber begrenzt
Abhilfe bei finanziellen Engpässen können die Schweizer Sozialwerke leisten. Ein gutes System mit Reformbedarf, findet Andri Silberschmidt. Probleme sieht er besonders bei der beruflichen Vorsorge. «Das Loch in der zweiten Säule ist gerade bei Frauen gross, weil sie häufiger Teilzeit oder gar nicht arbeiten», sagt der FDP-Nationalrat.
In den letzten 30 Jahren hätten der Staat und die Kantone bei der Armutsbekämpfung enorme Fortschritte gemacht, sagt Straumann. Das zeigt ein Rückblick auf die Geschichte der Sozialwerke.
Für SP-Nationalrätin Jacqueline Badran sind die Sozialwerke der Schweiz ein emotionales Thema: «Bei dieser Gelegenheit danke ich meinen Vorfahren bei der SP und den Gewerkschaften, die das alles erstritten haben.» Heute würde die Schweiz das nicht mehr hinkriegen, ist sie überzeugt. Andri Silberschmidt stimmt ihr in diesem Punkt zu: «Wir müssen das auch jederzeit verteidigen.»
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