Wer unmittelbar, ernsthaft und konkret an Leib und Leben gefährdet ist, kann ein humanitäres Visum für die Schweiz beantragen. Mit dieser speziellen Einreiseerlaubnis ist es möglich, direkt via Flugzeug in die Schweiz zu gelangen.
Seit der Machtübernahme der Taliban 2021 stiegen die Anträge für solche Visa von Menschen aus Afghanistan stark an: Bis Ende 2022 gingen beim Staatssekretariat für Migration (SEM) fast 1'700 Gesuche ein – knapp 100 wurden bewilligt.
Erfolgreiche PEN-Aktion
Auffällig ist, dass fast die Hälfte dieser afghanischen Staatsangehörigen dank einer Aktion des Autorenverbandes PEN in die Schweiz kam. Dieser setzt sich weltweit auch für verfolgte Schriftstellerinnen und Schriftsteller ein.
43 Gesuche bewilligte das SEM. «Das ist natürlich ein unerwarteter Erfolg und ich erlebe das ein bisschen wie ein Wunder auch», sagt Schriftstellerin Sabine Haupt, die die Aktion koordiniert hat.
Hilfswerk kritisiert Bund
Auch das Hilfswerk Afghanistanhilfe koordinierte Anträge für humanitäre Visa von ehemaligen Mitarbeitenden oder auch von Menschen- und Frauenrechtsaktivisten in Afghanistan. Doch keiner der insgesamt acht Anträge wurde vom SEM bewilligt.
«Ich verstehe nicht, wieso. Wenn wir unsere Mandanten vergleichen mit denen des PEN-Zentrums, dann sind das sehr ähnliche Gefahrenpotenziale, wenn nicht höher, und sie werden abgelehnt», sagt Michael Kunz, Präsident der Afghanistanhilfe Schaffhausen. Er spricht von restriktiven und intransparenten Kriterien sowie Willkür bei den Entscheiden des SEM.
SEM weist Vorwürfe zurück
Das SEM weist diese Vorwürfe zurück. Alle Anträge würden nach rechtlichen Kriterien beurteilt. Von Willkür könne keine Rede sein. Warum so viele Afghaninnen über die Schriftstelleraktion ein humanitäres Visum erhielten, begründet SEM-Sprecher Daniel Bach damit, dass viele darunter «sehr exponierte Personen» seien, also «Schriftsteller, die sich öffentlich geäussert haben, auch gegen das Regime». Sie seien in einer extremen Bedrohungslage gewesen.
Die «Rundschau» konnte mit einem Afghanen sprechen, der jetzt in Pakistan ist und sagt, er sei ein ehemaliger Staatsanwalt und habe diverse Taliban hinter Gitter gebracht. Diese würden nun ihn und seine Familie suchen, wie ein Haftbefehl der Taliban zeige. Sie seien aktuell illegal in Pakistan, wo ihnen Gefängnis oder Abschiebung drohe.
Die Schweizer Behörden glauben ihm aber nicht, lehnten den Antrag für ein humanitäres Visum ab. Er sei in Pakistan nicht mehr unmittelbar gefährdet. Die Hauptvoraussetzung für ein humanitäres Visum ist somit nicht erfüllt.
Fall vor Bundesverwaltungsgericht
Wer für die Schweiz ein humanitäres Visum beantragen will, muss nach Pakistan oder in den Iran reisen – denn dort hat die Schweiz Botschaftsvertretungen. Das hatte auch der Afghane so getan, der nun mit seiner Familie in Pakistan festsitzt.
Auf den konkreten Fall, der vor Bundesverwaltungsgericht hängig ist, geht das SEM nicht ein. Allgemein sagt SEM-Sprecher Bach: «Entscheidend ist nicht, in welchem Staat sich die Person in diesem Moment befindet. Sie müssen einfach in einen anderen Staat, weil es dort Schweizer Botschaften gibt. Diese beurteilen dann, ob sie in diesem Drittstaat bedroht sind und ob sie einen Bezug zur Schweiz haben.»
Wenn es Menschen aus Afghanistan auf anderem Weg in die Schweiz schaffen und hier einen Asylantrag stellen, werden sie mehrheitlich vorläufig aufgenommen: Die Schutzquote beträgt 72 Prozent.