Staatsrechnungen wurden im Kanton Waadt auch schon euphorischer präsentiert. In den vergangenen zwanzig Jahren folgte Überschuss auf Überschuss. Doch die fetten Jahre sind vorbei. Das war die Botschaft von Bildungsdirektor und interimistischen Finanzdirektor Frédéric Borloz an einer Medienkonferenz am Donnerstagmorgen; die Situation sei kritisch.
Die grosse Abwesende war Valérie Dittli (Mitte). Die Regierung hatte sie vor drei Wochen als Finanzdirektorin abgesetzt und ihr nach längerem Hin und Her neue Aufgaben zugeteilt. Praktisch kein Tag vergeht, an dem die 32-jährige Zugerin nicht mit neuen Vorwürfen eingedeckt wird und sich mit Rücktrittsforderungen konfrontiert sieht.
Abschalten in der Natur
Diese Woche berichtete die Zeitung «Le Temps» unter Zitierung anonymer Quellen, Dittli schulde der bürgerlichen Wahlallianz Alliance Vaudoise und ihrer eigenen Partei Zehntausende Franken.
Wie geht sie mit den ständigen Attacken um? Wie schafft sie es, dies alles auszublenden? «Ich bin generell optimistisch», sagt Dittli in ihrem Büro. «Und ich habe ein tolles Umfeld.» Sie hebt ihren Partner hervor und betont, von Menschen aus der Deutsch- und Westschweiz getragen zu werden.
Trotz Arbeitstagen von bis zu 18 Stunden geht sie immer wieder hinaus in die Natur, um abzuschalten. «Beim Spazieren und Joggen im Wald kann ich etwas die Luft rauslassen», sagt sie mit einem Lächeln.
Kulturelle Gräben – auch in der Politik
Auch ihre Herkunft hilft. Sie sei auf einem Bauernhof aufgewachsen, erzählt Dittli. «Dort lernt man früh anzupacken, egal bei welchem Wetter. Man geht raus und muss einfach arbeiten.» Anpacken, die Arbeit verrichten, Widrigkeiten ausblenden. So funktioniert Valérie Dittli.
So funktioniert auch ein Stück weit die Deutschschweizer Politik. Sean Müller ist Professor für Politologie an der Universität Lausanne. Er kennt und erforscht beides: die Deutsch- und die Westschweizer Politik. Und er verfolgt auch den Umgang mit Dittli in der Waadt aufmerksam.
Über den Deutschschweizer Politstil sagt Müller, er sei viel direkter, pragmatischer und näher an der Zivilgesellschaft. «In der Romandie gleicht der Politstil eher dem Französischen.» Hierarchien und das Einhalten von Regeln spielten eine grössere Rolle.
Kommen Dittli am Ende auch kulturelle Unterschiede in die Quere? «Das kann man schon so sehen», sagt sie. Begriffe wie pragmatisch, lösungsorientiert und direkt würden sie durchaus umschreiben. Gleichzeitig sei der Kanton Waadt äusserst vielfältig. Die Wirtschaft und die Landwirtschaft hätten grosses Interesse, wenn jemand die Ärmel hochkremple und nach Lösungen suche.
«Staatskrise» in der Waadt?
In der Waadt war in den letzten Tagen mancherorts von einer Staatskrise die Rede. In der FDP gibt es wegen des Umgangs mit Dittli und den Vorwürfen gegen sie grosse Spannungen. Bekannte Unternehmer und Persönlichkeiten sind aus Steuergründen aus dem Kanton weggezogen.
Politologe Müller sagt, noch sehe er keine Staatskrise, aber: «Es besteht das Potenzial, dass es sich ausweitet, wenn sich das tröpfchenweise Bekanntwerden von Affären und Skandalen weiter hinzieht.»
Die Sinnfrage könne schon aufkommen, wenn sie vor dem Schlafengehen auf turbulente Tage zurückblicke, sagt Dittli. Aber: «Politik und Projekte für die Bevölkerung machen wir Spass, dann blühe ich auf.» Und noch ist der Spass grösser als der Verdruss.