Seit Ende des Kalten Krieges ist der Schweiz die konkrete Bedrohung abhandengekommen. Die Armee wurde kleiner, sie ist immer mehr aus dem Alltag der Menschen verschwunden.
Die Wehrfähigkeit der Armee – das ist, wenn die Soldaten fliegen, schiessen, Panzer fahren können, sagt Martin Elbe, ehemaliger Bundeswehroffizier und heute Professor für Militärsoziologie an deutschen Universitäten: «Die Wehrfähigkeit betont die Möglichkeit zur Gewaltandrohung.» Und diese Gewaltandrohung, die eine Armee durch ihre Waffen und Soldaten ausstrahlt, hat laut Elbe gelitten. «Und dem wird man sich jetzt bewusst.»
Der Krieg rüttelt die Schweiz auf
Ins Bewusstsein ist dies gerückt, weil seit zwei Jahren Krieg in der Ukraine herrscht. «Ein Abnützungskrieg in Europa wurde als passé angeschaut», sagt Militärhistoriker Rudolf Jaun. Aber weil dieser Krieg nun da sei, habe sich auch die Bedrohungslage für die Schweiz verändert. Und sie wird sich ihrer Wehrfähigkeit wieder bewusster. So lässt es sich auch aus der «Studie Sicherheit 2024» herauslesen.
Wehrfähigkeit kostet. Aber die Schweiz und ihre Armee hätten genau damit immer Schwierigkeiten gehabt, sagt Jaun: «Sie konnte sich all das, was eigentlich nötig gewesen wäre, finanziell nicht leisten.» Nötig, um gemäss ihrem Auftrag möglichst wehrfähig zu sein. Aber demnach war die Armee bis heute nie wehrfähig – zumindest nicht so, wie sie es sich selber gewünscht hat. Bedeutet das, dass, wenn die Schweiz kaum je wie gewünscht wehrfähig war, sie auch nicht wehrhaft ist?
«Wehrhaftigkeit ist eine erfolgreiche Gewaltandrohung», beschreibt Militärsoziologe Elbe den Begriff. Wehrhaft ist, wer im Krieg erfolgreich kämpft oder durch sein militärisches Potenzial so abschreckend wirkt, dass niemand angreift. Den Kampfbeweis zumindest musste die Schweiz bisher nie erbringen. Und nach dem Ende des Kalten Krieges, umzingelt von Freunden in Europa, sei der Schweiz das Bewusstsein, dass man als Gesellschaft wehrhaft sein müsse, abhandengekommen.
Dabei muss die Wehrhaftigkeit für Heiko Borchert eine Konstante in der Ausrichtung einer Gesellschaft sein. Er führt in Luzern ein Beratungsbüro für Fragen zu Strategien, Rüstung und nationaler Sicherheit. Borchert ist der Überzeugung: Wenn in einem Land der gesellschaftliche Wille, wehrhaft zu sein, zerfällt, dann halte sie das zwar eine gewisse Zeit durch. «Irgendwann gehen aber Kompetenzen und Mitarbeitende und mit ihnen weitere Kompetenzen verloren. Zudem werden die Systeme so alt, dass man sie nicht mehr modernisieren kann.»
Schleichender Kompetenzverlust
Genau dieser Prozess vollzieht sich derzeit für Borchert in der Schweiz. «Dazu kommt, dass wir nur einen sehr oberflächlichen Konsens darüber haben, was die Schweizer Armee eigentlich machen soll.» Sie soll gemäss ihrem Auftrag internationale Friedensförderung, Landesverteidigung und Unterstützung der zivilen Behörden machen. Von allem etwas.
Offene Gesellschaften wie die Schweiz hätten keine klaren Bedrohungsbilder, sagt Elbe. Man verteidige Werte und verteidige sich nicht gegen einen bestimmten Gegner. Das mache es schwieriger, die Wehrhaftigkeit als Thema in der Gesellschaft präsent zu halten. Ein Land wie die Schweiz sollte die eigene Wehrhaftigket ständig aufs Neue aushandeln. «Das muss sie, wenn die offene Gesellschaft überleben möchte» so Elbe.